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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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langen Ärmeln.

Wenn die Haut spricht

    I ch habe schon immer gern gezeichnet. Als Kind hatte ich immer ein Heft dabei, in das ich zeichnete, was ich sah. Es gefiel mir, zuzuschauen, wie die Dinge auf dem Papier Gestalt annahmen, der Vorgang des Zeichnens an sich faszinierte mich. Ich war wie in einer Blase, in meiner eigenen Welt, und Gott allein weiß, was in diesen Momenten in meinem Kopf vor sich ging.
    Wir Kinder wollten alle so sein wie die Erwachsenen, und deshalb ahmten wir sie in jeder Beziehung nach, in Sprache, Kleidung und sogar bei den Tätowierungen. Die erwachsenen Kriminellen, unter denen wir aufwuchsen – unsere Väter, Großväter, Onkel und Nachbarn – trugen am ganzen Körper Tätowierungen.
    In den russischen Verbrechergemeinschaften gibt es eine lebendige Kultur des Tätowierens, und jede Tätowierung hat eine Bedeutung. Eine Tätowierung ist wie ein Ausweis, sie dient dazu, den Rang innerhalb der kriminellen Gesellschaft mitzuteilen: die kriminelle »Profession«, der man nachgeht, Informationen über den Lebensweg und die jeweiligen Knasterfahrungen.
    Jede Gemeinschaft besitzt ihre eigene Tradition des Tätowierens, eigene Symbole und Schemata, nach denen die Zeichen am Körper angeordnet und später gelesen und übersetzt werden. Sibirien ist Urheimat der russischen Tätowierkultur, denn es waren die Vorfahren der sibirischen Kriminellen, die kodifizierte, geheime Symbole eintätowieren ließen und damit eine Tradition begründeten. Später wurde diese Kultur von anderen Gemeinschaften kopiert und hat sich in den Gefängnissen überall im Land ausgebreitet, wodurch sich die Bedeutungen der wichtigsten Tätowierungen und die Art, wie sie ausgeführt undübersetzt wurden, wandelten. Die Tätowierungen der mächtigsten Verbrecherkaste in Russland, der Tschornaja mast, sind von den sibirischen Urki übernommen, haben aber andere Bedeutung. Die Bilder können die gleichen sein, doch nur wer einen Körper zu lesen versteht, kann im Detail »erzählen«, was sich dahinter verbirgt, und erklären, worin sie sich unterscheiden.
    Im Unterschied zu den anderen Gemeinschaften tätowieren die Sibirer ausschließlich von Hand und mit Hilfe verschiedener Arten von Stäbchen. Tätowierungen, die mit Maschinen oder auf andere Art ausgeführt wurden, gelten als unwürdig.
    In der Tradition der sibirischen Urki ist das Tätowieren ein Prozess, der so lange dauert wie das Leben eines Kriminellen. Im Alter von zwölf Jahren werden die ersten Bilder eintätowiert, und mit den Erfahrungen und Lebensphasen des Betreffenden kommen weitere Tätowierungen hinzu und ergeben ein kodifiziertes, mit den Jahren immer vollständigeres Bild. Aus diesem Grund gibt es in der sibirischen Verbrechergemeinschaft im Unterschied zu den anderen Gemeinschaften auch keine jungen Männer, die große, vollendete Tätowierungen besitzen; in Sibirien werden Rücken und Brust erst tätowiert, wenn der Kriminelle in seinen Vierzigern oder Fünfzigern ist, und das Hauptschema ähnelt einer Spirale, die von außen, also von Händen und Füßen, zum Rumpf verläuft.
    Um Körper mit derart komplexen Tätowierungen lesen zu können, braucht man große Erfahrung und eine genaue Kenntnis der Tradition; deshalb nimmt der Tätowierer in der sibirischen Verbrechergemeinschaft eine Sonderstellung ein: Er ist wie ein Priester, den die anderen ermächtigt haben, in ihrem Namen zu handeln.
    Mir gefiel die Tradition des Tätowierens, aber ich wusste nicht viel darüber, nur das, was Vater, Großvater undOnkel mir darüber erzählt hatten, und ich wollte mehr erfahren. Die Vorstellung, dass man alles lesen konnte, was auf ihren Körpern stand, faszinierte mich.
    Deshalb verbrachte ich viel Zeit damit, die Tätowierungen abzumalen, die ich zu sehen bekam, und je mehr davon ich abmalte, desto verzweifelter war ich, weil ich nicht eine Tätowierung fand, die einer anderen glich. Die Motive waren die gleichen, aber in den Details unterschieden sie sich. Nach einer Weile entdeckte ich, dass das Geheimnis in eben diesen Details liegen musste, und begann sie zu analysieren: Doch es war, als müsste ich ganz allein eine Fremdsprache lernen, ohne Lehrer. Ich hatte bemerkt, dass bestimmte Tätowierungen nur an ganz bestimmten Stellen des Körpers angebracht wurden. Ich versuchte, Verbindungen zwischen den Darstellungen zu entdecken, stellte irgendwelche Hypothesen auf, doch das alles war wenig fundiert und flüchtig, wie Sand, der durch die Finger rinnt.
    Mit zehn

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