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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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hassen.
    Seine erste Verurteilung handelte er sich aufgrund eines Artikels im Strafgesetzbuch ein, der »Nichtstuern« gewidmet war: Wer keine Arbeit hatte, der konnte wie ein Krimineller verurteilt werden. Und so wurde Kostitsch für drei Jahre ins Gefängnis nach Twer geschickt. Zu der Zeit war gerade ein Krieg zwischen den Kasten im Gange, die Tschornaja mast versuchte, die Kontrolle in den Gefängnissen zu übernehmen; viele waren damit nicht einverstanden, und das Blut floss wie ein Fluss im Frühling. Kostitsch versuchte, sich aus allem herauszuhalten, sich mit niemandem einzulassen, aber mit der Zeit wurde ihm bewusst, dass man im Gefängnis nicht für sich bleiben kann. Die »Männer« lagen ihm mehr als die Blatnye , weil, so sagte er, »sie einfach waren und nicht versuchten, etwas durch Gewalt und Anmaßung zu bekommen, sondern lieber Worte und den gesunden Menschenverstand einsetzten«. Im Gefängnis trat er einer Familie bei, die indiesem Krieg neutral zu bleiben versuchte, ohne sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, doch eines Tages wurde einer von ihnen, einer von den Alten, von einem jungen, skrupellosen Blatnoj ermordet, der die Kaste der Seraja mast schwächen und ihre Mitglieder für die eigenen Interessen einspannen wollte.
    Daraufhin organisierten die »Männer« zunächst eine Art friedlichen Widerstand. Doch als sie begriffen, dass das nicht den gewünschten Erfolg hatte, beschlossen sie, in den Krieg zu ziehen. Ein Krieg, der mit Messern geführt wurde. Viele der normalen Häftlinge arbeiteten in der Gefängnisküche oder als Friseure (während die Blatnye nicht arbeiteten, weil das gegen ihre Regeln verstieß), so dass sie sich mühelos Messer und Scheren besorgen konnten und unter der Tschornaja mast Tod säten.
    Kostitsch konnte gut mit dem Messer umgehen: Er war auf dem Land aufgewachsen und hatte als Kind unter Anleitung eines Veterans aus dem Ersten Weltkrieg, der Metzger war und die Tiere mit einem einzigen Bajonettstoß erledigte, gelernt, wie man Schweine tötete. Mit seinen ersten Morden verdiente er sich einen neuen Beinamen: Seine Kameraden nannten ihn fortan »Schaber«. Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, wusste er schon, was er in Zukunft machen wollte: Es war der Beginn seiner langen Karriere als Pirat auf den Flüssen Wolga, Don und Donau.

    Mit Onkel Kostitsch konnte ich offen reden, ohne groß irgendwelche Benimmregeln zu beachten. Wie allen alten Autoritäten brachte ich ihm natürlich den gebührenden Respekt entgegen, aber ich nahm mir auch ein paar Vertraulichkeiten heraus: Ich erzählte ihm meine Abenteuer und stellte ihm viele Fragen, was man in der Verbrechergemeinschaft gewöhnlich nicht tut.
    Oft bat er mich, ihm Gedichte von Jessenin, Lermontow und Puschkin vorzutragen, die ich auswendig kannte, und wenn ich fertig war, sagte er zu seinen Gefährten:
    »Habt ihr gehört? Das wird mal ein intelligenter Mann, ein Studierter! Gott segne dich, Söhnchen. Los, sag noch mal das mit dem Adler hinter Gittern auf ...«
    Es war sein Lieblingsgedicht. Puschkin vergleicht darin den Seelenzustand eines Gefangenen mit dem eines jungen Adlers, der in Gefangenschaft aufgezogen wird und in einem engen Käfig leben muss. Ich trug das Gedicht mit kräftiger Stimme vor, und Onkel Kostitsch sah mir direkt in die Augen, als suchte er etwas, das kommen musste und nie kam, und seine Lippen bewegten sich langsam und wiederholten ganz, ganz leise die Worte. Wenn ich zum Ende kam und rief: »Jetzt fliegen wir fort! Wir fliegen ins Freie! ’s ist Zeit! ja, ’s ist Zeit! Dahin, wo die Berge sich dehnen so weit, Dahin, wo das Meer glänzt in bläulichem Strich, Dahin, wo nur schweben die Lüfte und ich!«, fuhr er sich mit den Händen durchs Haar und sagte theatralisch:
    »So ist es, es ist wahr, so ist es! Aber selbst wenn ich ein neues Leben hätte, ich würde es wieder so machen!«
    In diesen Augenblicken beeindruckte mich die Erkenntnis, wie schlicht er war und wie schön und in gewissem Sinne rein seine Schlichtheit.

    Kostitsch hatte einmal ein junges Fixerpärchen totgeprügelt. Die beiden wohnten im Zentrum und hatten ihr vier Monate altes Kind verhungern lassen, hatten es einfach in einer Ecke ihrer Wohnung sterben lassen, zwischen Lumpen und Schmutzwäsche.
    Das Pärchen war in der ganzen Stadt wegen seiner Arroganz berühmt. Die Frau sah recht gut aus, sie kleidete sich aufreizend und benahm sich auch so. Ihr Mann, Sohndes Direktors einer Autofabrik in einer

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