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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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standen auf dem Tisch immer kleine Teller mit frischem Knoblauch, in Scheiben geschnittenen Zwiebeln, kleinen grünen Tomaten, Butter, Sauerrahm und viel schwarzem Brot. Falls es das Paradies gibt, dann muss es da unbedingt einen Tisch geben, der so üppig gedeckt ist wie im Lokal von Tante Katja.
    In ihrer Gegenwart wagten wir nicht, Alkohol zu trinken, sie wollte das nicht. Also tranken wir Kompot , eine Fruchtmischung aus verkochten Äpfeln, Pfirsichen, Pflaumen, Aprikosen und roten und schwarzen Heidelbeeren. Kompot wurde im Sommer zubereitet und den Rest des Jahres in luftdicht verschlossenen Dreiliterflaschen mit zehn Zentimeter langem Hals aufbewahrt und in den kühlen Keller gestellt. Vor dem Genuss musste man das Getränk anwärmen.
    Jedes Mal, wenn Tante Katja fortging, goss Onkel Kostič ein bisschen Wodka in unsere Gläser und sagte augenzwinkernd:
    »Aber lasst euch bloß nicht von ihr erwischen ...« Gehorsam kippten wir das Wodka- Kompot -Gemisch, und er lachte über die Gesichter, die wir gleich darauf machten.
    Das Mittagessen dauerte eine Stunde, wenn nicht länger. Zum Abschluss gab es kochend heißen Tee, stark und schwarz, mit Zitrone und Zucker. Und dazu Honigkuchen, wunderbar. Mel wollte sich auf diesen Kuchen stürzen wie ein Wehrmachtssoldat auf die Hühner in den Ställen der russischen Bauern. Ich gab ihm aber gleich eine gutgemeinte Ohrfeige, woraufhin sich seine Hände unter den Tisch zurückzogen.
    Die Aufgabe, den Kuchen zu teilen, oblag mir, schließlich war es mein Geburtstag. Aus Respekt gab ich das erste Stück Onkel Kostitsch, das zweite einem alten Kriminellen namens »Beba«, Kostitschs stillem, unsichtbarem Schatten. Als nächstes bediente ich in aller Seelenruhe Mel, der kurz vorm Explodieren war: Er starrte konzentriert auf sein Stück wie ein Hund, der den Happen in der Hand seines Herrchens fixiert und dessen Bewegungen folgt. Ich musste lachen, deshalb stellte ich seine Geduld eiskalt noch mehr auf die Probe, indem ich jeden Handgriff in Zeitlupe ausführte. Schließlich hielt Mel es nicht mehr aus, unter dem Tisch begannen seine Knie vor lauter Anspannung fürchterlich zu zittern, und ich sagte mit absoluter Ruhe:
    »Pass auf, sonst fällt er noch auf den Boden.«
    Alle lachten, und Mel am lautesten von allen.
    Nach dem Nachtisch saß man gewöhnlich eine Viertelstunde lang reglos da, um – wie mein Großvater sagte – »ein bisschen Fett anzusetzen«, und unterhielt sich über dies und das. Nur Mel konnte sich über gar nichts mehr unterhalten; nach der Art zu urteilen, wie er sich zurücklehnte, war er in einen körperlichen und geistigen Zustand wie nach einem Drogenexzess eingetreten. Das war auch der Grund, weshalb mein Onkel Mel von klein auf immer »das Schwein« nannte: weil er vom Essen wie die Schweine besoffen wurde.
    So bestritten nur Onkel Kostitsch und ich das Gespräch, und Beba warf hier und da ein Wort ein.
    »Und, zu Hause alles in Ordnung? Wie geht es deinem Großvater, Gott stehe ihm bei?«
    »Gut. Dank der Gebete ist er munter, zum Glück erhört der Herr uns stets.«
    »Und was ist in diesen Haken gefahren, den armen Jungen?«
    Kostitsch spielte auf eine Sache an, die ein paar Wochen zuvor passiert war: Einer von uns, der gerade volljährig geworden war, war mit drei Georgiern aneinandergeraten und hatte einen mit dem Messer schwer verletzt. Mit dem Kaukasus gab es immer mal wieder Stunk, kein echter Krieg zwischen zwei Vierteln, nur mit einer Gruppe reaktionärer Georgier gerieten wir immer wieder aneinander. In der Schlägerei hatte unser Freund Haken in Notwehr gehandelt, aber hinterher hatte er einen schweren Fehler gemacht: Er wollte partout nicht zu dem »Prozess« erscheinen, der auf Initiative eines Familienangehörigen des verletzten Georgiers von den kriminellen Autoritäten der Stadt angesetzt wurde. Haken war stinksauer und leistete sich leichtfertig einen Verstoß gegen die kriminelle Rechtsprechung. Wäre er vor den Autoritäten erschienen und hätte ausgesagt, wäre die Sache sicher zu seinen Gunsten ausgegangen, so aber hatte der Familienangehörige des verletzten Georgiers die Richter Glauben gemacht, sein Verwandter sei von einem grausamen, skrupellosen Sibirer grundlos angegriffen worden.
    Nun versuchte Kostitsch, der zu den Autoritäten gehörte, die in den Prozess eingebunden worden waren, das Motiv zu ergründen, weshalb Haken sich so aufgeführt hatte.
    »Was ist das für ein Junge, du kennst ihn doch, oder?«
    »Ja, Onkel, er

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