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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Leute, die mitden Kötern kooperierten und den Unsinn glaubten, den die Gefängnisverwaltungen ausstreuten, zum Beispiel die Mär von der »Resozialisierung der Persönlichkeit«. Sie wurden »Gehörnte«, »Rote«, »Genossen«, Sucha oder Padla genannt – Namen, die in der Gemeinschaft der Kriminellen einen äußerst abwertenden Klang hatten.
    Alle anderen wurden als Graue bezeichnet, als Seraja Mast: das heißt als Neutrale. Sie waren gegen die Köter und befolgten die kriminellen Regeln, übernahmen aber weder Selbstverpflichtung noch Philosophie der Tschornaja mast, sie wollten bestimmt nicht das ganze Leben im Gefängnis sitzen.
    Die Anhänger der Tschornaja mast mussten ihre Angehörigen verleugnen, sie durften weder ein Zuhause noch eine Familie haben. Wie die anderen Kriminellen huldigten sie dem Kult der Mutter, doch die eigene Mutter wurde von vielen überhaupt nicht respektiert, sie behandelten sie schlecht. Wie viele Söhne habe ich im Gefängnis kennengelernt, die einander theatralisch versicherten, das einzige, was ihnen wirklich fehle, sei die Mama, Mama hier, Mama da, lauter schöne Worte, und wenn sie dann rauskamen, ließen sie sich zu Hause nur blicken, um diese Mama auszunutzen, ja manchmal zu bestehlen, denn so lautet ihr Gesetz: »Jeder Blatnoj – das heißt jedes Mitglied der Tschornaja mast – muss alles von Zuhause mitnehmen, nur so beweist er aufrichtige Hingabe ...« Völlig irre, denn das führte dazu, dass sie ihre Mütter und Väter beraubten, bedrohten und manchmal sogar umbrachten. Ein kurzes, gewalttätiges Leben, wie sie selbst es definierten: »Wein, Karten, Frauen und nach uns die Sintflut ...«, ohne jede moralische oder soziale Verpflichtung. Ihr Dasein verwandelte sich in ein immerwährendes Spektakel, in dem sie ständig und ausschließlich die schlechten, primitiven Seiten ihrer Natur zeigten.
    Die Balance von Seraja und Tschornaja mast beruht auf immer neuen Waffenstillständen; im Gefängnis sind die »Männer« zahlreicher, dafür sind die Blatnye besser organisiert.
    Die Kaste der »Männer« besitzt keine Hierarchie wie die Tschornaja mast: Was zählt, sind Alter und Beruf, wer mehr riskiert, Räuber und Polizistenmörder etwa, steht ganz oben, darunter kommen die Diebe, die Betrüger, die Falschspieler und all die anderen.
    Die »Männer« treffen jede Entscheidung gemeinsam und befolgen Regeln, die denen der Sibirer ähneln, verhalten sich aber in jeder Situation nach Möglichkeit neutral. Ihr Motto lautet: »Unser Haus steht außerhalb des Dorfes.« Sie schließen sich nicht zu Banden zusammen, sondern zu »Familien«, auch im Gefängnis, in denen alle gleich sind und alles miteinander teilen; wenn nötig, schließen sich die Familien zusammen und erlangen dann grenzenlose Macht. Gefängnisaufstände gehen fast immer auf ihr Konto.

    Der Alte mit der größten Autorität im Lokal – den ich persönlich grüßen musste, bevor ich irgendetwas anderes tat – hieß Onkel Kostitsch und trug den Beinamen »Schaber«.
    Er war ein alter, erfahrener Krimineller, der im ganzen Land bekannt war; in unserer Gemeinschaft und in meiner Familie redete man gut über ihn, begegnete ihm mit Zuneigung. Er war ein ruhiger, friedlicher Typ und hatte eine sehr angenehme Art zu sprechen, er drückte sich geduldig und bescheiden aus und war stets klar und direkt: Musste er einem etwas sagen, redete er nicht lang drum herum. Er lebte bei seiner Mutter, die so alt war, dass sie einer Schildkröte glich, sie bewegte sich langsam und war doch noch rüstig; sie besaßen ein Haus und etwas Land.Onkel Kostitsch hielt viele Tauben, und ich besuchte ihn manchmal, um welche zu tauschen: Er war sehr großzügig und schenkte mir immer noch ein paar dazu, bot mir Tschifir an und erzählte mir hinterher interessante Storys aus seinem Leben. Er hatte eine Tochter irgendwo in Russland, aber er hatte sie schon lange nicht mehr gesehen, ich glaube, das machte ihm sehr zu schaffen.
    Als junger Mann, erzählte er mir, war er kein Krimineller, er arbeitete in einem großen Sägewerk, wo er Baumstämme zerlegte. Eines Tages sah er mit an, wie ein Kollege von einem Baumstamm in die große Säge gestoßen und in zwei Teile zersägt wurde. Der Vorarbeiter erlaubte ihnen nicht, die Arbeit zu unterbrechen, sie mussten immer weiter sägen und besudelten sich mit dem Blut ihres Kameraden. Von da an begann er den Kommunismus, die Arbeit im Kollektiv und alles andere, was das Sowjetsystem propagierte, zu

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