Sibirische Erziehung
Freundschaft zweier Menschen mit so unterschiedlichem Schicksal beizuwohnen, die inmitten des Chaos durch die Einsamkeit zusammengebracht wurden.
Tante Katja setzte sich zu uns. Der Alte hielt noch immer ihre Hand, und während er in die Ferne, über unsere Köpfe hinweg, blickte, sagte er:
»Meine Tochter muss jetzt in deinem Alter sein, weißt du das, Katja? Ich hoffe, es geht ihr gut, und sie hat ihren Weg gemacht, und dass es ein guter, rechter Weg ist, anders als meiner ...«
»Und meiner ...«, antwortete Tante Katja mit leichtem Zittern in der Stimme.
»Gott möge mir armem Dummkopf verzeihen. Was habe ich gesagt, Katjuscha, Gott steh dir bei ...«
Sie antwortete nicht, sie war den Tränen nahe.
Wir saßen einfach nur still dabei und hörten zu, und die Gefühle, die im Raum standen, waren echt und tief.
Was mir an dieser Umgebung gefiel, so gewalttätig und brutal sie auch sein mochte, war, dass dort kein Platz für Lüge oder Unaufrichtigkeit war, für Schauspielerei oder Albernheiten: Sie war uneingeschränkt wahrhaftig und hatte unwillkürlich Tiefgang. Ich meine, die Wahrheit hier war natürlich, spontan und nicht raffiniert, gewollt: Die Leute hier waren wirklich menschlich.
Nach einer kurzen Pause sagte ich:
»Tante Katja, wir haben dir etwas mitgebracht ...«
Mel stellte die Tüte mit der Pflanze auf den Tisch, die der alte Bosja in Lappen eingewickelt hatte, um sie vor der Kälte zu schützen.
Sie entfernte die Lappen, und ein Lächeln überzog ihr Gesicht.
»Na, was ist? Gefällt sie dir?«
»Danke, Kinder, sie ist wunderschön. Ich stelle sie gleich ins Gewächshaus, denn bei der Kälte ...«, sagte sie und ging mit der Pflanze in den Händen davon.
Wir waren glücklich, als ob wir eine Heldentat vollbracht hätten.
»Gut gemacht, Jungs«, sagte Onkel Kostitsch. »Dass ihr mir diese heilige Frau nie vergesst, Gott allein weiß, wie man sich fühlt, wenn man sein Kind verloren hat...«
Als Tante Katja zurückkam, sah man ihren Augen an, dass sie geweint hatte. Sie umarmte uns.
»Na, womit kann ich heute euren Hunger stillen?«
Das war eine rhetorische Frage. Alles, was sie kochte, schmeckte köstlich. Wir überlegten nicht zweimal und bestellten ihren erstklassigen Borschtsch mit Sauerrahm und Hartweizenbrot. Ein gutes Brot, schwarz wie die Nacht.
Sie brachte einen großen Topf und stellte ihn mitten auf den Tisch. Die Suppe war so heiß, dass der aufsteigende Dampf fest wie ein Mast schien. Wir bedienten uns mit dem großen Schöpflöffel und fügten einen Klacks Sauerrahm hinzu, der fest und etwas gelblich war, so viel Fett enthielt er. Dann nahmen wir ein Stück vom schwarzen Brot, strichen Knoblauch und Butter darauf und aßen immer abwechselnd einen Löffel Suppe und einen Bissen Brot.
Mel war imstande, allein einen ganzen Topf zu verputzen, er aß hastig, während ich langsam kaute, ich gab mich ganz dem Genuss hin, und als ich dann einen Nachschlag wollte, hörte ich nur noch das traurige Schlagen des Schöpflöffels gegen die leeren Topfwände. In solchen Augenblicken überkam mich große Lust, den Löffel auf dem Kopf meines unersättlichen Kameraden zu zertrümmern.
Immer, wenn ich diese Suppe esse, fühle ich mich, als öffnete sich meine Brust, ganze Salven angenehmer Empfindungen lösen sich, und ich habe Lust, mich in einem warmen, weichen Bett auszustrecken und ein zehnstündiges Nickerchen zu halten.
Aber uns blieben nur fünf Minuten, da kam schon der Hauptgang: gekochte Kartoffeln mit Fleisch aus dem Backofen, das schwamm im Fett und verströmte einen Duft, der direkt ins Herz ging. Und dazu die gleichen drei Beilagen wie immer: in dünne Streifen geschnittener Kohl, in Salz mariniert, äußerst lecker; mein Großvater bezeichnete ihn als Naturheilmittel gegen jede Krankheit, dem es die Russen zu verdanken gehabt hätten, dass sie jeden Krieg gewannen. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wie eingelegter Kohl Krankheiten heilen sollte und dank welcher militärischer Strategien er Kriege gewonnen hatte, aber er war köstlich und ging, wie man bei uns sagt, »pfeifend runter«. Die zweite Beilage waren Gurken,ebenfalls in Salz eingelegt, wahnsinnig lecker, so knackig wie frisch gepflückt, gewürzt mit zahlreichen Kräutern, ein Gedicht. Die dritte waren geriebene weiße Rüben mit Sonnenblumenöl und frischem Knoblauch. Beilagen einer bäuerlichen Küche, die mit wenigen Rohstoffen auskommen mußte, dafür zahllose Arten der Zubereitung kannte. Außerdem
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