Sibirische Erziehung
Kriminellen gewöhnt hatten und immer die Gemeinschaft suchten – obwohl sie das Gegenteil demonstrierten, denn ihre gequälten Gesichter erweckten den Anschein, alsärgerte sie die Anwesenheit der anderen. Doch in Wirklichkeit waren dies ihre wahren, ihre normalen Gesichter. Ich glaube, dass sie sich zurück ins Gefängnis sehnten, ja sogar nach dem alltäglichen Leid, an das sie sich über so lange Zeit gewöhnt hatten. Obwohl sie seit Jahren in Freiheit waren, lebten sie weiter wie Zuchthäusler. Viele schafften es nicht, sich an die Regeln der Zivilgesellschaft zu gewöhnen, an die Freiheit. Fast alle lebten in Einraumwohnungen, in denen sie die Wände zum Klo und zur Kochnische einreißen ließen, um einen einzigen Raum zu erhalten, der sie an die Zelle erinnerte. Ich kannte alte Kriminelle, die sogar Stacheldraht und Gitterstäbe vors Fenster montierten, weil sie sich sonst unwohl fühlten und nicht einschlafen konnten. Andere schliefen auf Holzpritschen und ließen die ganze Zeit Wasser aus dem Hahn laufen, wie in der Zelle. Ihr ganzes Leben wurde eine perfekte Kopie des Alltags im Knast. Es war komisch: Man stelle sich einen Menschen vor, der viele Jahre gesessen hat und es nicht erwarten kann, das katastrophale Gefängnisleben hinter sich zu lassen und gegen die Annehmlichkeiten eines freien, schönen Lebens einzutauschen, und dann ist es, als hätte man diesen Leuten ihre wahre Identität genommen und sie in eine fremde Welt katapultiert.
Bei Tante Katja durften diese Kriminellen ein Phantasiegefängnis nachbilden, weil sie seit je ihre Gäste waren und weil sie jeden Einzelnen gern hatte:
»Ich möchte diese alten Leute nicht umerziehen«, sagte sie.
Und so kam man sich, wenn man Tante Katjas Lokal betrat, vor, als wäre man in eine Gefängniszelle geraten.
Man sah es schon daran, wie sie saßen, die Köpfe gesenkt, als hinderte sie etwas daran aufzuschauen. Daran kann man einen alten Knasti gut erkennen: Er hat denKopf immer gesenkt, weil man im Gefängnis die meiste Zeit auf der Pritsche hockt und aufpassen muss, dass man sich nicht an der oberen Pritsche den Kopf stößt. Selbst diejenigen, die nur wenige Jahre gesessen haben, legen diese Gewohnheit nicht so einfach ab.
Die meiste Zeit spielten die Alten bei Tante Katja Karten, aber nicht mit gewöhnlichen Spielkarten, sondern mit Kolotuschki , im Gefängnis hergestellten, handbemalten Karten.
Alle trugen die gleiche graue Kleidung und hatten die Fufajka an, die klassische schwere Jacke, die so schön dick und warm war.
Die Zigaretten gaben sie wie in der Zelle von einem zum anderen weiter, obwohl jeder seine eigene hätte rauchen können; aus dem Rauch, der durchs Lokal waberte, schauten ihre kaputten Gesichter hervor, deren Ausdruck wie eine ewige Frage war, als wäre ihnen etwas Komisches passiert, das sie sich beim besten Willen nicht erklären konnten: aufgerissene Augen, die in drei Sekunden eine vollständige Röntgenaufnahme von ihrem Gegenüber machten und besser als man selbst wussten, wer man war.
Untereinander sprachen sie nur in ihrem Jargon und in Fenja , der alten Sprache der sibirischen Kriminellen, doch sie redeten nur wenig und leise, meist kommunizierten sie mit – oft heimlichen – Gesten.
Tante Katja nannten sie »Mutter«, womit sie die Bedeutung ihrer Rolle und ihre Autorität hervorhoben.
Sie befolgten viele Verhaltensregeln aus dem Gefängnis, zum Beispiel gingen sie nicht auf Toilette, während einer aß oder trank, obwohl sich die Toilette hier natürlich nicht im gleichen Raum befand, sondern auf der anderen Seite des Hofs. Sie redeten nicht über Politik, Religion oder Differenzen zwischen Nationalitäten.
Es herrschte eine strenge Hierarchie: Die mit der größten Autorität setzten sich ans Fenster, wo die besten Plätze waren, die anderen saßen bei den Türen. »Müll«, »Degradierte« und andere Ausgestoßene waren nicht zugelassen: Im Gegensatz zum Gefängnis muss man in der Freiheit nicht mehr notgedrungen die Zelle teilen. Dafür gab es zwei oder drei »Sechser« 1 , eine Art Sklaven, die jene Aufgaben verrichteten, die ein Krimineller als unwürdig betrachtet: Da sie Geld mit den Händen berühren durften, bezahlten sie die Rechnung aller aus der Gemeinschaftskasse. Wenn jemand keine Zigaretten mehr hatte, musste der Sechser los und neue holen: eine Dienstleistung, für die er bezahlt, aber auch ein bisschen verachtet wurde, nicht beleidigend, aber bezeichnend, damit er nicht vergaß, welches sein
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