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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Platz in der Hierarchie war. Es war beeindruckend mitanzusehen, wie diese alten Männer wie kleine Jungen behandelt wurden; sie waren immer in Bereitschaft, überprüften ständig, ob jemand im Raum ihrer bedurfte. Wenn sie die Zigaretten brachten, verbeugten sie sich mit demütigem Gesicht, warteten, bis der Kriminelle mit der größten Autorität das Päckchen geöffnet hatte und ihnen eine fürs Holen anbot, dann bedankten sie sich und kehrten, rückwärtsgehend wie Krebse, an ihren Platz zurück, um den Menschen, mit denen sie gerade zu tun gehabt hatten, nicht den Rücken zuzukehren.

    Wer das Lokal von Tante Katja betrat, der musste sich also an die Gefängnisregeln halten und sich benehmen, als beträte er eine echte Zelle. Das mochte idiotisch wirken, doch für diese Leute, alt gewordene Ex-Sträflinge, war das ein Zeichen des Respekts, man gab ihnen damit zuverstehen, dass man in guter Absicht kam und Bescheid wusste.
    Wer eine Zelle betritt, muss wissen, wie man auf würdige Art grüßt. Man kann nicht einfach »Hallo« oder »Guten Tag« sagen, denn dann wissen die Kriminellen sofort, dass man keine Ahnung von ihrer Kultur hat, und man kann von Glück reden, wenn man als »auf der Durchreise« eingestuft wird, als einer, der nichts mit ihnen zu tun hat: Dann werden sie einfach nur nicht mit einem kommunizieren und so tun, als wäre man gar nicht da. Richtig grüßt man so: die Tür öffnen, einen Schritt machen und dann unbedingt stehenbleiben, sonst hat man es vermasselt. Als nächstes sagen: »Friede eurem (oder unserem) Haus« oder »Friede und Gesundheit den ehrbaren Vagabunden« (das ist echter Kriminellen-Slang, damit ist man auf der sicheren Seite) oder »Gute Gesundheit der ehrbaren Gesellschaft«, »Die Stunde eurer Freuden ist gekommen« – in der Welt der Kriminellen gibt es zahlreiche Möglichkeiten zu grüßen, wie man sieht. Nachdem man die richtige Formel gesprochen hat, muss man unbedingt stehenbleiben und die Antwort abwarten. Normalerweise antworten die Kriminellen nicht sofort, sie lassen etwas Zeit verstreichen, um die Reaktion des Neuankömmlings abzuschätzen. Wer was drauf hat, bleibt cool, starrt vor sich hin und wird niemals jemandem ins Gesicht schauen. Er bleibt still stehen und wartet. Die Antwort kommt von dem mit der größten Autorität oder aus seiner Umgebung, ebenfalls als Formel: »Aufrichtiges Willkommen« oder »Der Herr möge dich leiten« oder »Tritt ein von Herzen«.
    Als nächstes, besagen die Regeln, muss man unbedingt den Kriminellen mit der höchsten Autorität persönlich begrüßen. In unserem Fall kannte ich ihn. Er saß an einem der Fenster auf der gegenüberliegenden Seite von Tante Katjas Lokal. Da saß er immer, mit seinen Leuten.
    Alle Anwesenden gehörten zur Kaste der »Männer«, die in der Verbrecherhierarchie Seraja mast genannt wird, Graue Farbe. Das waren hartgesottene Kriminelle, Trinker, einfache Leute, Diebe und Mörder, die sich aus persönlichen Gründen nicht der Tschornaja mast anschließen wollten, deren Mitglieder eine Art »Aristokratie« unter den Kriminellen darstellten.
    Zwischen den einzelnen kriminellen Gemeinschaften vollzog sich ein ewiger Kampf um die Macht, die Interessen waren unterschiedlich, aber das Endziel aller war immer das gleiche: die Macht.
    Die Tschornaja mast war in der Welt der Gesetzlosen eine recht junge, aber mächtige Kaste, die sich auf die Philosophie des persönlichen Opfers berief. Die Angehörigen dieser Kaste gerierten sich als reine, vollkommene Menschen, die ihr Leben dem Wohlergehen der Leute im Gefängnis widmeten. Sie huldigten dem Kult des Gefängnisses, das sie untereinander »Zuhause«, »Kirche« oder »Mutter« nannten, und sie waren glücklich, wenn sie wieder reinkamen, selbst wenn es lebenslänglich war, während alle anderen Kasten, auch die sibirischen Urki, das Gefängnis verabscheuten und die Haft ertrugen, wie man einen Schicksalsschlag erträgt.
    Weil sie auch »Hunde« und »Schweine« in ihren Reihen zuließen, war die Tschornaja mast zur zahlenmäßig stärksten Kaste in der Welt der russischen Gesetzlosen aufgestiegen: Doch das führte dazu, dass man auf einen weisen, guten Mann, den man unter ihnen antraf, zwanzig andere kennenlernte, die sich um nichts scherten und ihren Sadismus auslebten, sich wichtigmachten und jede Situation dominierten. Deshalb verweigerten sich viele ihren Ideen.
    Daneben gab es noch eine ganz besondere Kaste: die Krasnaja mast oder Rote Farbe. Das waren

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