Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
zentralrussischen Großstadt, war ein gescheiterter Ex-Student, der fixte und dealte und die Leute gegen sich aufbrachte, weil er sein Gift unter die Jugendlichen brachte.
    Die Nachbarn, die schon länger bemerkt hatten, dass das Baby zu mager war und ständig weinte, beobachteten eines Tages, wie die Eltern ohne das Kleine aus dem Haus kamen und in die Kneipe gingen, wo sie den ganzen Tag blieben. Sie vermuteten, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte, brachen die Wohnungstür auf und fanden den leblosen kleinen Körper. Da brach die Hölle los.
    Um ein Haar wären die Eltern von der Menge gelyncht worden, wenn nicht der Wart des Zentrums eingeschritten wäre, sich die beiden geschnappt und mit dem Versprechen, sie nach dem Gesetz der Kriminellen abzuurteilen, in sein Haus mitgenommen hätte. In Wirklichkeit wollte der Wart die günstige Gelegenheit dazu nutzen, von dem Fabrikdirektor, der seinen Sohn bestimmt vor dem sicheren Tod bewahren wollte, ein Lösegeld zu erpressen. Zwar dachten sich alle etwas in der Richtung, doch sie hielten lieber den Mund. Alle außer Kostitsch.
    Kostitsch tat etwas Aufsehenerregendes: Allein erschien er vor dem Haus des Warts, mit nacktem Oberkörper, in den Händen einen Stock. Die Handlanger des Warts versuchten ihn gewaltsam aufzuhalten, aber er zeigte nur auf die Jungfrau mit dem Kind, die auf seine Brust tätowiert war, und sagte:
    »Ihr wollt diese beiden schlagen?«
    Da wichen die anderen zurück und ließen ihn eintreten, und er prügelte die entarteten Eltern mit dem Stock zu Tode und warf sie anschließend aus dem Fenster, hinunter auf die Straße, wo die Leute weiter auf sie eindroschen, bis von ihnen nur noch organische Masse übrig war.
    Der Wart war außer sich, aber nach nur halbstündigerBeratung gaben die Männer mit der größten Autorität in der Stadt, darunter auch Großvater Kusja, Kostitsch recht und rieten dem Wart zu einer einfachen, aber drastischen Lösung: sich das Leben zu nehmen.
    Eine Woche später tauchte der Fabrikdirektor auf und wollte den Sohn rächen. Es war offensichtlich, dass er nicht viel über unsere Stadt wusste, denn er erschien mit einer Truppe bewaffneter Idioten, die je zur Hälfte aus ehemaligen Kötern und Soldaten bestand; er hatte sie für eine Strafexpedition gegen den Kriminellen engagiert, der seinen Sohn getötet hatte. Nun, sie sind allesamt in einer Gasse verschwunden, einschließlich ihrer Geländewagen. Niemand hat etwas gehört oder gesehen, sie haben die Stadt betreten und sie nicht mehr verlassen.
    Eine Weile wurde noch nach ihnen gesucht: Aufrufe in den Zeitungen, im Fernsehen zeigten sie sogar die Frau des Direktors, die jeden, der etwas über ihren Mann wisse, anflehte, sich zu melden. Aber es kam nichts heraus, sie waren, wie man bei uns sagte: »ertrunken, ohne Kreise auf dem Wasser zu hinterlassen«.
    Als ich Großvater Kusja fragte, natürlich nicht direkt, sondern auf großen Umwegen, ob er meine, dass der Direktor zu Recht gestorben war, antwortete er mir mit einem Satz, an dem ihm sehr gelegen sein musste, weil er ihn bei jeder Gelegenheit anbrachte:
    »Wer mit dem Schwert zu uns kommt, wird durch das Schwert sterben.« Dabei lächelte er wie immer, aber mit dem lastenden Blick eines Mannes, der viele Geschichten hinter sich herzieht, ohne Aussicht, sie je wieder loszuwerden.

    Kommen wir zu uns zurück: Wir gingen also auf den Tisch von Onkel Kostitsch zu, ich flink vorneweg, Mel hinterdrein schlurfend. Onkel Kostitsch bot uns einen Platz an. Das war großzügig, und wir überlegten nicht zweimal.
    Da erschien auch Tante Katja und küsste uns erst mal ab.
    »Wie geht’s, Kinder?«, fragte sie mit ihrer engelsgleichen Stimme.
    »Danke, Tante Katja, alles in Ordnung ... Wir kamen grad vorbei, und da haben wir beschlossen, auf einen Sprung reinzuschauen und zu fragen, wie’s dir geht, ob du etwas brauchst ...«
    »Ich habe hier doch meine Gesellschaft, dem Himmel sei Dank ...«, antwortete sie und warf Onkel Kostitsch einen freundlichen Blick zu.
    Er nahm ihre Hand und küsste die Handfläche, wie es in den alten Zeiten Brauch war, wenn man einer Frau seine Zuneigung ausdrücken wollte, der Mutter oder der Schwester zum Beispiel. Dann sagte er:
    »Jesus Christus sei mit dir, Mutter, du legst dich krumm, damit wir atmen. Vergib uns wegen allem, Katjuscha, wir sind alte Sünder, vergib uns wegen allem.«
    Es war ein bewegendes Schauspiel, den einfachen, zugleich übertriebenen Bekundungen des Respekts und der

Weitere Kostenlose Bücher