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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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schleppten sich die Angreifer zum Gehweg.
    Ich ging zu dem, den Mel hatte abstechen wollen: Er war verängstigt, obwohl er keinen Kratzer abbekommen hatte. Ich musste den Bösen spielen. Also packte ich ihn am Schlafittchen und versuchte ihn hochzuziehen, aber ich schaffte es nicht, er war schwerer als ich, deshalb ließ ich mich zu ihm herunter, piekste ihm mit dem Messer in den Oberschenkel, so dass ein bisschen Blut kam. Er schrie auf und fing an zu weinen und flehte mich an, ihn nicht umzubringen. Damit er aufhörte, verpasste ich ihm eine heftige Ohrfeige:
    »Halt die Schnauze, schwule Sau! Weißt du, wen du hier vor dir hast, Idiot? Weißt du nicht, dass wir aus der Unterstadt mit dem Messer getauft werden? Hast du wirklich geglaubt, du könntest uns kaltmachen? Ich prügele mich, seit ich sieben bin, so welche wie dich hab ich so viele aufgeschlitzt, dass ich die Übersicht verloren habe.«
    Das war natürlich ein bisschen übertrieben, aber ichmusste ihn einschüchtern, Furcht säen, denn ein ängstlicher Gegner ist schon halb besiegt. Ich zweifelte nicht daran, dass wir es bald mit seinen Kumpanen zu tun bekommen würden, und die sollten schon von vornherein kalte Füße bekommen, deshalb.
    »Diesmal lass ich dich laufen, weil ich heute Geburtstag hab und weil wir uns das erste Mal begegnet sind, aber wenn du mir noch mal über den Weg läufst, kenne ich kein Erbarmen mehr. Wenn du den Geier siehst, sag ihm, Kolima lässt ihn grüßen, und wenn ich ihn erwische, dann werde ich ihm noch vor heute Abend den Bauch aufschlitzen wie einem Schwein ...«
    Der arme Idiot mit seinem blutenden Oberschenkel, verschreckt sah er mich an, so als würde ich mich seiner Seele bemächtigen.
    Wir machten uns wieder auf den Weg: Fima mit einem großen Stock, Iwan mit einem kaputten Schlagstock, den er auf dem Boden gefunden hatte, Dscheka mit einer Eisenstange, Finger mit einem Messer und einem Stock, ich mit zwei Messern in der Tasche, und schließlich mein zweiter Schatten mit demütigem Gesicht, einem Stock und einem abgebrochenen Messer in der Hand.
    Während wir davongingen, kamen die »Überlebenden« aus den Höfen, in die sie geflüchtet waren. Wir waren etwa zwanzig Meter entfernt, als einer uns hinterherrief:
    »Sibirische Bastarde! Geht doch in euren scheiß Wald zurück! Wir machen euch alle kalt!«
    Mel drehte sich blitzschnell um und schleuderte sein kaputtes Messer auf ihn. Es beschrieb eine seltsame Flugbahn und traf einen, der neben dem Schreihals stand, mitten ins Gesicht. Noch mehr Blut, und alle nahmen Reißaus und ließen einen weiteren verletzten Kameraden im Schnee zurück.
    »Gütiger Gott, was für ein Schlachtfeld ...«, sagte Dscheka.Wir gingen schnell weiter. Wenn wir auf offenes Gelände kamen, rannten wir fast. Höfe und Engstellen versuchten wir zu meiden.
    Als wir die letzte Häuserreihe vor den Lagerhäusern hinter uns gelassen hatten, versteckten wir uns zwischen den ohne Baugenehmigung errichteten Garagen. Ich schlug vor, erst gründlich die Gegend zu erkunden, bevor die ganze Gruppe die Straße überquerte: Ich spürte, dass uns Überraschungen erwarteten.
    »Hört zu«, sagte ich. »Ich zieh die Jacke aus, so kann ich schneller rennen. Die Straße überquere ich weiter unten, wo sie eine Kurve macht und zwischen den Bäumen verschwindet, dann gehe ich zu den Lagerhäusern und checke die Lage. Wenn es viele sind, gehen wir an einer anderen Stelle rüber. Ansonsten greifen wir sie aus dem Hinterhalt an und mischen sie unter die Scheiße ... Ich brauche eine Viertelstunde, nicht länger, inzwischen seht ihr in den Garagen nach, vielleicht findet sich was, das sich als Waffe gebrauchen lässt, aber seid vorsichtig, damit ihr sie nicht auf euch aufmerksam macht ...«
    Alle waren einverstanden, nur Mel wollte mich nicht allein gehen lassen, er machte sich Sorgen.
    »Ich komm mit, Kolima, da kann alles Mögliche passieren ...«
    Ich konnte ihm nicht sagen, dass er mir nur zur Last fallen würde, ich musste es behutsamer anstellen.
    »Ich brauche dich aber hier. Wenn sie herausfinden, wo ihr seid, musst du die Gruppe verteidigen. Ich allein komme aus jeder Scheiße, aber die anderen?«
    Bei diesen Worten wurde Mel ernst, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, als würde ein japanischer Kamikaze seinen Flieger besteigen.
    Ich zog die Jacke aus und wollte los, aber Mel hielt mich noch mal zurück, drückte mir die Eisenstange in die Hand und sagte mit bebender Stimme:
    »Die brauchst du

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