Sibirische Erziehung
Stunde täglich die Ohren massierte, sei er das Laster binnen einem Monat los.
Dscheka nahm das Bonbon und fühlte sich gleich besser. Auf der Stirn hatte er einen blauen Fleck, der bis ans linke Auge reichte. Wir müssten uns beeilen, sagte ich zu ihm, und machen, dass wir so schnell wie möglich aus dem Eisenbahnviertel kämen. Dscheka machte sich Sorgen, weil die wussten, wo er wohnte, er hatte Angst, nach Hause zurückzugehen.
»Keine Sorge, Brüderchen«, beruhigte ich ihn. »Wenn wir in unserem Viertel sind, erzähle ich alles dem Wart. Onkel Balken wird das schon regeln.«
Ich versuchte, ihm zu erklären, dass er bei uns sicher, beschützt war.
»Woher weißt du so genau, ob wir im Recht sind und nicht im Unrecht?«, fragte er.
Erst kam mir seine Frage dumm vor. Aber später begriff ich, dass sie durchaus einen tieferen Sinn hatte. Eigentlich ging es nämlich darum: Dass wir in dieser oder ähnlichen Situationen im Recht waren, stand außer Zweifel, nicht aber die objektive Realität unserer Position im Verhältnis zur Welt um uns herum.
Mein Freund Dscheka war ein Philosoph, aber ich war damals noch nicht so vertraut mit den Worten, deshalb antwortete ich mit den ersten, die mir einfielen:
»Weil wir wahrhaftig sind, wir verbergen nichts.«
Dscheka lächelte seltsam, als wollte er etwas darauf sagen, hob es sich dann aber lieber für ein andermal auf.
Unterdessen hatte Mel die Taschen unserer Feinde inspiziert und drei Messer, sechs Päckchen Zigaretten und vier Feuerzeuge – davon eins aus Gold, das er sich sofort in die Tasche steckte –, mehr als fünfzig Rubel sowie eine Tüte mit goldenen Ringen und Kettchen an sich genommen, die diese Gauner bestimmt irgendwem abgeknöpft hatten.
Neben der Tonne erwartete uns noch mehr Beute: eine Stofftasche. Darin waren eine Thermoskanne mit schlechtem, dafür noch recht heißem Tee, ein Dutzend kleine Käsebrötchen und eine Überraschung: eine abgesägte Schrotflinte ohne Kolben sowie ein loser Haufen Patronen zwischen den Brötchen. Ich sortierte sie aus: Die originalen behielt ich, die selbstgemachten warf ich weg, weil ich der Munition von Unbekannten nicht traute, besonders wenn sie aus dem Eisenbahnviertel stammten.
Mel war erstaunt und fragte wie eine Platte mit Hänger immer wieder:
»Warum haben die nicht auf uns geschossen? Warum haben die nicht auf uns geschossen?«
»Weil sie keine Männer sind ...«, antwortete ich, aber nur, damit er Ruhe gab, denn ehrlich gesagt wusste ich auch nicht warum. Vielleicht war der Besitzer der Schrotflinte zu überrascht gewesen, um sie herauszuholen ... Vielleicht, vielleicht auch nicht. Fest stand nur eins: Wenn sie die benutzt hätten, wäre die ganze Geschichte anders gelaufen, und ich wäre jetzt wohl nicht hier, um sie zu erzählen.
Mel wollte sie an sich nehmen, aber nach dem Ältestenrecht stand sie Finger zu: Also gab ich die Flinte ihm, und er versteckte sie sorgfältig unter der Jacke. Zum Glück war Mel nicht beleidigt, er war einverstanden und begnügte sich damit, Finger zu erklären, wie man mit so einem Ding schoss.
Wir beeilten uns, in den Park zu kommen. Ich war mir sicher, dass es noch nicht vorbei war, ich hatte eine komische Vorahnung. Im Gehen kaute ich auf einem gefrorenen Brötchen herum, und dabei überlegte ich, dass es wirklich ein schlechtes Omen war, dass ich am Tag meines Geburtstags all diese Scherereien hatte.
»Was soll’s, auf mich wartet ein schwieriges Leben«, sagte ich mir. »Hoffentlich ist es nicht allzu kurz.«
Als wir den Park betraten, wurde es schon dunkel. Im Winter bricht die Dunkelheit rasch herein, das Tageslicht weicht ohne großen Kampf, binnen einer halben Stunde kann man nichts mehr sehen. Im Park gab es keine Laternen, nur zwischen den Bäumen hindurch funkelten schwach die Lichter der Stadt. Wir gingen den Hauptweg entlang.
Auf Höhe des Krankenhauses eröffnete ich Dscheka meine Theorie, dass diese Geschichte noch nicht vorbei sei. Im Herzen spürte ich, dass noch ein Hinterhalt auf uns wartete, und da der abgelegene, düstere Park der beste Ort dafür war, fürchtete ich um uns alle.
Dscheka dachte genauso:
»Das ist doch kein Zufall, dass wir den Geier noch nicht zu Gesicht bekommen haben, oder?«
Ich schlug vor, dass wir dicht beieinander blieben, damit wir uns gegenseitig den Rücken freihalten konnten, falls sie plötzlich über uns herfielen.
Sofort drängten wir uns aneinander, fielen wie dieSoldaten in Gleichschritt und erwarteten jeden
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