Sibirische Erziehung
gute Iwan, kaum dass er versucht hatte, den Empfindungen seines Herzens zu folgen, vom mächtigen Ehemann zerquetscht, was sich in einer brutalen Intervention seitens einiger Geheimdienstler manifestierte, die ihn mit Hilfe gewisser Injektionen zum Wrack machten.
Offiziell war er verschwunden, niemand wusste wohin, alle waren überzeugt, er hätte die Sowjetunion über Finnland verlassen. Einige Monate später fand man ihn in einer Einrichtung für Geisteskranke, wo er lebte, seit man ihn im Zustand geistiger Umnachtung auf der Straße aufgegriffen hatte. Er erinnerte sich nicht mal an seinenNamen. Das einzige, was er bei sich hatte, war seine Geige: Dank ihrer kamen die Ärzte auf das Orchester und konnten ihn später seiner Schwester übergeben.
Iwans Gesundheit war für immer ruiniert, sein Gesicht war das eines Menschen, der von großen, lang anhaltenden Zweifeln geplagt wird. Er konnte sich mühelos verständlich machen, wenn er etwas gefragt wurde, doch über seine Antwort musste er deutlich länger als normal nachdenken.
Er spielte weiter Geige, es war das einzige, was ihn mit der realen Welt verband, wie ein Anker, mit dem er sich ans Leben klammerte. Zwei Mal die Woche tauchte er in einem Lokal im Zentrum auf und betrank sich bis zur Besinnungslosigkeit. Betrunken, sagte er, habe er Momente völliger geistiger Klarheit. Leider gingen sie rasch vorbei.
Sein treuer Gefährte, der ihm bei den alkoholischen Exzessen Gesellschaft leistete, war ein anderer armer Kerl namens Fima, der mit neun Jahren infolge einer Hirnhautentzündung den Verstand verloren hatte. Fima war extrem gewalttätig, überall sah er Feinde: Wenn er in einen Raum kam, steckte er die rechte Hand in den Mantel, als wollte er eine nicht vorhandene Pistole ziehen. Er war bösartig und streitsüchtig, aber niemand sagte was, weil er ja krank war. Er lief immer mit einem Matrosenmantel herum und brüllte Seemannssprüche wie: »Wir sind wenige, aber wir haben Streifenpullis!« oder »Volle Kraft voraus! Hundert Anker in den Arsch, versenkt das faschistische Scheißhaus!« Fima teilte die Welt in zwei Kategorien ein: »die Unsrigen«, das heißt die Leute, denen er vertraute und die er als seine Freunde betrachtete, und »die Faschisten«, das heißt alle, die er als Feinde ansah und die deshalb zu schlagen und zu beleidigen waren. Man begriff nicht recht, nach welchen Eigenschaften er zwischen»Unsrigen« und »Faschisten« unterschied, er kam durch eine in der Tiefe verborgene Intuition darauf.
Iwan und Fima konnten eine Menge Unheil anrichten. Während Fima völlig entfesselt war, schlug Iwan mit einer natürlichen Gewalt zu, er warf sich auf die Leute wie ein Raubtier auf seine Beute.
Und genau dieser Eigenschaften wegen hoffte ich inständig, sie zu Hause anzutreffen.
Als wir hereinkamen, spielten Dscheka, Iwan und Fima im Wohnzimmer Schiffe versenken.
Dscheka war entspannt und nahm seine Mitspieler lachend auf die Schippe.
»Gluck-gluck-gluck«, machte er das Geräusch eines sinkenden Schiffes nach.
Mit zitternden Händen hielt Fima traurig sein Blatt: Seine Flotte musste sich in einer verzweifelten Lage befinden.
Iwan saß niedergeschlagen in einer Ecke. Sein Zettel auf dem Fußboden deutete an, dass er sein Spiel bereits verloren hatte. Er hielt seine Geige in den Händen und spielte eine merkwürdige Melodie, sehr langsam und traurig, wie ein ferner Schrei.
Ich schilderte Dscheka kurz unsere Lage und bat ihn, uns zu helfen, heil durchs Eisenbahnviertel zu kommen.
Er erklärte sich sofort dazu bereit, und Fima und Iwan folgten ihm wie zwei Lämmer, die bereit waren, sich in Löwen zu verwandeln.
Wir traten auf die Straße, ich betrachtete meine Bande und konnte nicht glauben, dass ich an meinem Geburtstag in einen solchen Schlamassel geraten war, der immer unglaublicher wurde: Zwei sibirische Halbwüchsige und ein Erwachsener, der gerade aus dem Knast kam, versuchen, in Begleitung des Sohns einer Kinderärztin und zweierrasender Irrer heil aus dem Viertel zu kommen, in dem Jagd auf sie gemacht wird.
Dscheka und ich gingen vor, die anderen folgten uns. Während ich mich mit Dscheka unterhielt, hörte ich, wie Mel Finger eine seiner Wunderstorys erzählte, von einem Riesenfisch, der, angezogen von Tante Martas Apfelgelee, den ganzen Fluss stromaufwärts geschwommen war bis zu unserem Viertel. Das Lustigste an der Story war, wenn Mel zeigte, wie groß der Fisch gewesen war. Er breitete die Arme aus wie der gekreuzigte Jesus
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