Sibirisches Roulette
Expertenkommission Woropajew weiß es, jeder da oben in Moskau an den Planungstischen weiß es – nur diejenigen, durch deren Land der Kanal fließen wird, wissen kaum etwas. Und wer nichts weiß, wehrt sich gegen das, was er nicht weiß. Eingesehen hat man das. Und nun fange ich in dem verdammten Lebedewka damit an. Am Mittwoch. Eine große Versammlung in der Stolowaja. Alle müssen kommen, alle. Der Dorfvorsteher – wie heißt er?«
»Korolew«, antwortete Schemjakin.
»Richtig. Korolew. Morgen bekommt er Nachricht, daß am Mittwochabend jeder in die Stolowaja kommen soll. Landkarten habe ich mitgebracht, Zeichnungen, Fotos, sogar einen Schmalfilmapparat und zwei hervorragende Filme über den Karakumkanal, den Moskwa-Wolga-Kanal, den Wolga-Ostsee-Kanal; imponierende Filme, sage ich Ihnen, mein lieber Boris Igorowitsch. Das muß überzeugen. Da sieht man die Zukunft Rußlands. Da kann keiner mehr die Augen verschließen, da jubelt das Herz der Patrioten. Und dann die neuen künstlichen Seen, die Staubecken, die Kraftwerke. Denken Sie nur an das Wasserkraftwerk am Jenissej in Ostsibirien, das Werk Sajan-Schuschenskoje … gigantisch, das ist es, gigantisch. Sechsundfünfzig Milliarden Kilowattstunden Elektroenergie erzeugt es; sechsundfünfzig Milliarden … Es muß einem schwindlig werden! Das ganze Gebiet links und rechts des Jenissej kann man damit erschließen. Neuland, ungeheure Bodenschätze, Strom für neue Städte – das neue, unbesiegbare, unfaßbar reiche Rußland, hier kann man's sehen! Wissen Sie Genaueres über das Kraftwerk Sajan-Schuschenskoje? Nein, nicht mal Sie wissen es, Schemjakin! Wie sollen es dann die Bauern und Fischer wissen? Sagen muß man's ihnen. Wie hoch ist die Bogenmauer des Dammes? Zweihundertfünfundvierzig Meter! Wie lang ist die Dammkrone? Eintausendsechsundsechzig Meter! Unvorstellbar! Der stärkste Staudamm der Welt ist er … einen Druck muß er aushalten von achtzehn Millionen Tonnen. Stockt nicht Ihr Herz, Schemjakin? Und wenn das letzte Aggregat eingesetzt ist – am 19. Dezember 1985 soll's soweit sein –, dann werden 6,4 Megawatt Strom am Jenissej erzeugt werden. Aber alles das, alle diese technischen Wunder verblassen – und das muß eben jeder wissen – gegenüber dem Sib-Aral-Kanal. Er ist der Höhepunkt menschlicher Leistung.«
Niktin hatte sich so in Begeisterung geredet, daß seine Haut über dem Gesicht zu platzen drohte. Bei den letzten Sätzen stampfte er sogar auf dem Boden auf, als tanze er auf den Worten herum. Schemjakin war beeindruckt von den Zahlen und aß eine knackige Krendel – eine Brezel mit Früchten und Nüssen –, die Olga Walerinowna zum Nachtisch gebacken hatte. Auch Niktin griff zu, biß ab, schnaufte begeistert und rollte die Augen. Dann pfiff er mit gespitzten Lippen, ein Ausdruck seines höchsten Gefühls.
»Das alles wollen Sie den Leuten von Lebedewka erzählen?« fragte Schemjakin.
»Erzählen und zeigen. In Lebedewka fange ich an und fahre dann von Ort zu Ort bis Tjumen.«
»Und Sie sind sicher, daß die Zuhörer es begreifen?«
»Die Zahlen? Nie! Wer kennt schon Megawatt? Aber die Bilder, Genosse, die Fotos, die Filme … auf den Stühlen werden sie kleben und es nie vergessen. Ich selbst bin ja fassungslos gewesen, als ich die Filme zum erstenmal gesehen habe.« Niktin knackte wieder ein Stück Krendel ab. »Nach dieser Information wird's keine Bomben mehr geben. Mithelfen werden sie an dem Kanal.«
»Ein kleines Wunder wäre auch das«, sagte Schemjakin skeptisch. »Es sei Ihnen gegönnt, Jossif Wladimirowitsch … Um Monate sind wir zurückgeworfen. Angst habe ich, daß daraus Jahre werden könnten.«
So erhielt Korolew am Dienstag, kurz nachdem Krasnikow und Meteljew gegangen waren, durch einen Boten Niktins Aufforderung, am Abend des nächsten Tages eine große Versammlung zu veranstalten. »Jeder Bürger hat zu kommen«, schrieb Niktin deutlich. »Wichtig ist es für uns alle.«
Korolew schickte diesen Aufruf im Rollsystem durch Lebedewka; das heißt: Jeder, der den Brief gelesen hatte, gab ihn sofort weiter an seinen Nachbarn. So machte er schnell die Runde und kam am späten Abend zu Korolew zurück. Zerknittert und verdreckt war der Brief durch die vielen schmutzigen Hände, die er durchlaufen hatte, und bei Großväterchen Beljakow wäre er fast vernichtet worden, denn der Alte hatte getobt: »Noch einen Vortrag? Ja, was ist das denn? Sind wir auf einer Universität? Zwingen will man mich, blödes Geschwätz
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