Sich vom Schmerz befreien
Besserung des Schmerzes herbeiführen soll.
Nicht selten fühlen sich Betroffene dadurch jedoch abgewertet. Sie erleben, dass man sie nicht ernst nimmt, und glauben, man unterstelle ihnen Simulation, um Aufmerksamkeit zu erhalten bzw. dass sie sich den Schmerz nur einbilden. Denn betrachtet man den Schmerz von auÃen als objektiven Sinnesreiz im Organismus, bedeutet dies, dass man sich Schmerzen »einbilden« kann, die es »in Wirklichkeit« gar nicht gibt. Natürlich bedeutet das auch, dass Schmerzen, die objektiv betrachtet existieren, weil entsprechende Schädigungen und Beeinträchtigungen vorliegen, »verdrängt« werden und man sie somit nicht wahrnimmt.
Vielleicht gehören Sie aber auch zu den Menschen, die dem Thema Psyche offen gegenüber stehen. Sie haben sich ein wenig mit der Schmerzforschung beschäftigt und wissen, dass »psychische Komponenten« des Schmerzes nicht gleich »psychisch gestört« bedeuten, sondern dass damit »normale« Vorgänge der Wahrnehmung und des Verhaltens gemeint sind, die den Schmerz beeinflussen bzw. von ihm beeinflusst werden.
Sie wissen auch, dass es wichtig ist, »akute Schmerzen« von »chronischen Schmerzen« zu unterscheiden. Letztere sind definitionsgemäà solche, die (je nach Definition) länger als 3 bis 6 Monate andauern oder wiederholt auftreten. Da ständige Schmerzen natürlich auch Auswirkungen auf die Psyche haben, zieht man sich immer weiter zurück, hat Schwierigkeiten bei der Alltagsbewältigung oder Angst davor, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, wird depressiv. Die Wahrnehmung verändert sich, man wird empfindsamer, die Gedanken und schlieÃlich das gesamte Leben kreisen nur noch um ein Thema: Schmerz.
Und speziell die moderne neurowissenschaftliche Diagnostik findet tatsächlich für chronische Schmerzen andere neurologische und biochemische Abläufe und damit andere »Ursachen« als für akute Schmerzen. Im Denken des Maschinenmodells, also von auÃen betrachtet, bedeutet dies, dass es sich bei chronischen Schmerzen um eine andere Schmerzart handelt als bei akuten. Was sind diese anderen Ursachen? - Nun, hier sind »Spannungen« eine beliebte Erklärung. Was das genau bedeutet, erfahren Sie im Laufe dieses Kapitels.
Neben Muskelspannungen wird der Begriff vor allem auch in Verbindung mit »psychischen« Faktoren (»emotionale«, »stressbedingte« und »psycho-soziale Spannungen«) genannt, die den Schmerz verstärken oder gar verursachen. Sie sorgen dafür, dass die Schmerzen ihre Warnfunktion vor einem gefährlichen Schaden verlieren und sich »verselbstständigen«. Sie werden zu einem eigenständigen Problem. In der Forschung werden sogenannte »bio-psycho-soziale Schmerzmodelle« verwendet, um zu erklären, wie körperliche Prozesse - und damit der Schmerz - durch psychische und soziale Faktoren ausgelöst und verstärkt werden. Und tatsächlich bestätigt sie, dass die Vorgänge bei psychischen Belastungs- und Problemsituationen mit nozizeptiven Prozessen (= Schmerzreiz) zusammenhängen. Wie war das mit der Psyche beim geschilderten Schmerzpatienten?
Schmerzen kannte Herr M. - wie gesagt - schon als Kind. Immer wieder tat ihm der Bauch oder auch - ohne ersichtlichen Grund - irgendwo am Bewegungsapparat etwas weh. Er hatte natürlich auch die eine oder andere Verletzung. Da er wenig jammerte, die Schmerzen schnell auch wieder vergingen, wurde all dem nicht viel Beachtung geschenkt. Die Schmerzen wurden mit den jeweiligen Verletzungen, mit seiner übermäÃigen körperlichen Aktivität, seiner Ernährung oder mit seinem Wachstum erklärt. Später dann, als Erwachsener, trifft er während seines Reha-Aufenthaltes auf einen Psychologen. Mehrere Gespräche mit ihm bringen die Erkenntnis, dass die Konflikte mit Arbeitskollegen und Vorgesetzten eine zentrale Belastung im Zusammenhang mit seiner Schmerzthematik darstellen. Hintergrund ist nicht zuletzt auch die Persönlichkeit von Herrn M.: Als Kind wurde er dazu erzogen, sich immer anzustrengen, um geforderte Aufgaben zur Zufriedenheit anderer zu lösen. So lernte er, sich über Leistung zu definieren. Von anderen Menschen fordert er dasselbe. Dabei setzt er sich selbst sehr unter Leistungsdruck und stellt andere Bedürfnisse zurück, sodass sich immer mehr Spannungen aufbauen und es ihm auch gedanklich nicht mehr gelingt, sich
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