Sich vom Schmerz befreien
und man alle Ursachen beseitigen kann. Bis dahin muss man ihn medikamentös betäuben bzw. zur Linderung schmerztherapeutisch behandeln.
Allerdings zeigt sich seit Beginn der wissenschaftlichen Schmerzforschung bis heute, dass der Zusammenhang zwischen den objektiven Ursachen und dem Schmerzerleben sehr gering ist. Keine noch so exakte Diagnose von Schädigungen, Störungen, Defekten oder auch der bio-elektrischen Vorgänge ermöglicht es, ein damit zusammenhängendes Schmerzerleben vorherzusagen. Ein beliebtes Beispiel ist die Erkenntnis, dass einerseits 80% aller Bandscheibenvorfälle nicht bemerkt werden, weil es keine entsprechenden Schmerzen gibt. Andererseits habe ich in all den Jahren meiner schmerztherapeutischen Tätigkeit kaum Menschen gesehen, die nach einer Bandscheibenoperation (längerfristig) ohne Schmerzen und Probleme waren - wobei es sich aus der Sichtweise des Maschinenmodells natürlich um »andere Arten« handelt. Hier ist eine Schmerztherapie im Sinne von »Beseitigung der Störung in der Maschine« erst einmal gescheitert.
Für die naturwissenschaftliche Schmerzforschung ist dies jedoch kein Anlass, das Maschinenmodell zu hinterfragen, sondern bedeutet Ansporn, nach weiteren, bisher nicht entdeckten Ursachen und Möglichkeiten zu suchen, sie zu beseitigen. Also werden weitere »Schmerzarten« definiert (bei Bedarf auch neue erfunden) und vor allem möglichst verträgliche Medikamente entwickelt. Ergänzend zu Operationen und Medikamenten wird, wie angemerkt, von vielen Seiten schmerztherapeutisch gearbeitet, insbesondere zur Behandlung chronischer Schmerzen und Schmerzkrankheiten sowie nach Operationen, um den Heilungsprozess zu unterstützen.
Diese Schmerztherapie, wie sie sich aus dem »Maschinenmodell« ergibt, werde ich am Ende dieses Kapitels am Beispiel des Herrn M. charakterisieren (siehe S. 78 ff.). Ich tue dies aus zwei Gründen: Zum einen möchte ich damit den Unterschied zu einer »kommunikativen Therapie« hervorheben, die einem Patienten hilft, sein »Verhalten Schmerz« zu ändern. Um die geht es dann in Kapitel 4. Wie bereits in Kapitel 1 geschildert, ist nach dem »Drei-Ebenen-Modell« des Gehirns (siehe Abb. S. 29) Muskelaktivität die Grundlage jedes Verhaltens und damit jedes körperlichen und psychischen Vorgangs. Es wird Sie also nicht überraschen, dass im neuen, im »Spannungsmodell«, ebenfalls die Muskelaktivität im Vordergrund steht. Doch damit wird auch die Schmerztherapie auf ein neues Fundament gestellt, denn medikamentöse und chirurgische MaÃnahmen spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Bitte verstehen Sie dies nicht falsch: Natürlich sind diese MaÃnahmen wichtig, da sie Leben retten, bedrohliche Krankheiten, Schädigungen und Störungen überwinden helfen und für den Moment durch die Schmerzbetäubung die Teilnahme am Leben möglich machen. Doch sie beseitigen den Schmerz nicht zwangsläufig und oftmals nicht dauerhaft.
Der zweite Grund, warum ich der Schmerztherapie im sogenannten »Maschinenmodell« so viel Aufmerksamkeit schenke, ist, weil dort bereits systemtheoretische Ansätze zu finden sind. Wie wir aus dem letzten Kapitel wissen, sind systemische Gedanken die erste Stufe für den Wandel in der Medizin. Man kann also die therapeutischen Angebote und Methoden, die bisher verwendet werden, entsprechend verändert auch für eine kommunikative Schmerztherapie nutzen. Am Ende dieses Kapitels erfahren Sie deshalb, welche therapeutischen Hilfen Herr M. erhalten hat, die direkt oder indirekt mit Muskelaktivität zu tun haben. Auch in der naturwissenschaftlichen Schmerzforschung spielt Muskelaktivität eine zentrale Rolle. Warum das so ist, erläutere ich im nächsten Abschnitt.
Schmerz und Muskelaktivität im Maschinenmodell
Aus Ihrer persönlichen Erfahrung wissen Sie, dass Muskelaktivität und Muskelspannung sehr eng mit dem Schmerzerleben zusammenhängen. Wenn man sich ein Bein bricht, wird es eingegipst und ruhiggestellt. Obwohl es nach wie vor gebrochen ist, schmerzt es dann kaum noch, es sei denn, man bewegt sich. Ãhnlich ist es mit anderen Schmerzen. Egal ob der Kopf, der Rücken, die Schulter, der Ellbogen, das Knie oder der Bauch wehtut, egal welche Krankheit oder Schädigung für den Schmerz verantwortlich ist - es ist stets die Muskelaktivität, die bestimmt, ob und wie der Schmerz erlebt wird.
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