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Sich vom Schmerz befreien

Titel: Sich vom Schmerz befreien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Weitzer
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von der Arbeit zu lösen. Konflikte sind vorprogrammiert. Seine Rückenprobleme interpretiert der Psychologe letztendlich auch als eine Möglichkeit, kurzzeitig und ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, den Belastungen zu entkommen.
    (Auf die schmerztherapeutischen Maßnahmen von Seiten der Psychologie gehe ich in diesem Kapitel später noch ein.)

Immer mehr Ursachen und Schmerzarten
    So vielfältig auch die psychischen Ursachen für die Entstehung von Schmerz sein mögen: Im Denken des Maschinenmodells sucht man nach psychologischen »Tatsachen« im Zusammenhang mit dem Schmerzerleben, die von außen erfasst werden können und die über nozizeptorische Vorgänge dann zu den Schmerzen beitragen. Meist sind damit »psychischer Stress« oder psychische Auswirkungen des Schmerzproblems gemeint, etwa Angst und das Gefühl von Hoffnungslosigkeit, Konflikte, aber auch »Vorteile« des Schmerzes wie vermehrte Aufmerksamkeit und Zuwendung (der sogenannte »sekundäre Krankheitsgewinn«). Diese Ursachen werden dann, wenn man sie akzeptiert, therapeutisch bearbeitet, um dadurch die körperliche und medikamentöse Schmerztherapie zu unterstützen.
    Die moderne Schmerzforschung ist sehr erfolgreich darin, bio-elektrische Abläufe im Zusammenhang mit Schmerzen immer exakter zu messen. Eine Folge dieser wissenschaftlichen Ursachenforschung ist, dass durch das immer differenziertere Wissen auch andere Wissenschaftsgebiete ins Spiel kommen: Innerhalb der Medizin sind es Orthopädie, Innere Medizin und Neurologie, dann natürlich die Pharmakologie, Physiologie, Anatomie, Biomechanik, Biologie und - wie wir gesehen haben - auch die Psychologie. So ergeben sich immer kleinere Fachgebiete, die spezifische Aspekte von einer anderen Warte aus erforschen. Immer mehr »Experten« studieren Schmerzen aus ihrer Perspektive - scharf abgegrenzt gegen die anderen Bereiche.
    Folglich wird das Denken über den Schmerz und mit ihm die Sprache, mit der er beschrieben wird, immer spezifischer. Derselbe Schmerz bedeutet für einen Neurologen etwas anderes als für einen Orthopäden - und erst recht natürlich für einen Psychologen. Das Ganze mündet in der Unterscheidung von immer mehr Schmerztypen und Schmerzarten: akute und chronische Schmerzen, körperlich bedingte (somatogene) und
psychisch bedingte (psychogene) Schmerzen, myogene (muskulär bedingte) und viscerale Schmerzen (Schmerzen an Eingeweiden), Oberflächenschmerz und Tiefenschmerz, Nozizeptorschmerz, neuropathischer Schmerz, reaktiver Schmerz, psychosomatischer Schmerz, Phantomschmerz. Die Reihe könnte beliebig erweitert werden.
    So gesehen hängt die Definition eines Schmerzes und damit letztendlich seine Behandlung davon ab, wer ihn in welcher Hinsicht untersucht. Denkt man weiter darüber nach, dann bedeutet dies, dass sich letztendlich durch die naturwissenschaftliche Sicht von außen auch die Trennung von Körper und Psyche in der Schmerzbehandlung ergibt und dass diese, wie in Kapitel 1 bereits festgestellt, immer mehr gefestigt wird.
    Â 
    Auch bei Herrn M. wurden viele Schmerztypen und viele Ursachen diagnostiziert und somit die Voraussetzung geschaffen, sehr »ganzheitlich« und »multiprofessionell« therapeutisch handeln zu können. Grundlage dieser Schmerzmedizin und Schmerztherapie ist dabei die bereits genannte offizielle Definition der WHO (siehe S. 60 f.). Sie bezeichnet den Schmerz einerseits als Sinnesreiz, also eine Tatsache, die objektiv von außen, physiologisch exakt bestimmt werden kann, andererseits auch als »Gefühl«, also als etwas sehr Subjektives. Damit wird für die »Maschinenmedizin« der Boden bereitet, auf dem sie objektiv nach körperlichen und psychischen Schmerzursachen suchen kann.
    Allgemein anerkannt besitzt Schmerz eine Warnfunktion und soll auf Defekte hinweisen. Dabei warnt der akute Schmerz vor einer unmittelbaren Gefahr durch eine körperliche Verletzung, Schädigung oder Erkrankung. Chronische Schmerzen hingegen können durch die körperlichen Ursachen nicht (mehr) vollständig erklärt werden. Somit hat der Schmerz die unmittelbare Warnfunktion verloren und wird durch weitere, bisher unentdeckte Faktoren verursacht, die vor allem auch
psychischer Natur sind. Die Untersuchung der »Maschine« Organismus muss also so lange fortgesetzt werden, bis man weiß, worauf der Schmerz hinweisen möchte

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