Sichelmond
Länge. Seine Wangen fielen ein, und dicke Tränensäcke formten sich unter seinen Augen. Seine Schultern schrumpften, sein ganzer Körper schien sich zu verschmälern. Auch die Haare gingen zurück, und schließlich stand der Besitzer des Lebensmittelladens vor Rouven. Der scheue, hagere Mann, den Rouven schon so oft begrüßt hatte, kurz bevor er die Tafel auf der anderen Straßenseite des Ladens betreten hatte.
»Na, kommt dir das bekannt vor?«, fragte Jachael in der dünnen Stimme dieses Menschen.
»Das warst auch du?«
»Anfangs nicht«, sagte Jachael und begann schon, sich wieder zurückzuverwandeln. »Anfangs war der Ladenbesitzer der Ladenbesitzer. Doch dann hab ich ihn aus dem Weg geräumt und dann und wann seinen Posten eingenommen, in seinem Laden. Merkwürdige Gestalt. Hat Spaß gemacht, ihn zu vertreten und die Polizei zu rufen.«
Inzwischen hatte Jachael seine ursprüngliche Gestalt wiedererlangt. Er kam erneut auf Rouven zugesprungen und sprach auf ihn ein: »Stell dich mir noch einmal, als Wächter der Seelen. Lass mich meinen Lieblingsfeind noch dieses eine Mal erleben. Danach kannst du tun, was du willst.«
Rouven dachte nach. Fieberhaft. »Ich glaube dir nicht«, antwortete er schließlich. »Das ist nicht alles, was du willst. Es geht dir doch bestimmt um mehr als nur um mich.«
Jachael setzte wieder sein diabolisches Grinsen auf. »Du bist gut. Tatsächlich gibt es da noch etwas. Eine Kleinigkeit nur, aber …«
»Dachte ich mir.«
»Wirklich: Kaum der Rede wert.«
»Was ist es?«
Jachael tat, als kratze er etwas Dreck unter seinen Fingernägelnhervor. »Da du es schon erwähnst … Ich hätte es ja nicht angesprochen …«
»Jachael!« Rouven war es endgültig leid. »Sag es doch einfach.«
»Hab ich doch: Es geht um die endgültige Schlacht. Es geht darum, wer die Welt für sich einnimmt.«
Rouven glaubte, sich verhört zu haben. »Die Welt?«
»Wenn ich dich besiegt habe – und davon kannst du fest ausgehen –, dann ist es vorbei mit der Ruhe in der Halle der Seelen. Noch nie war eure kleine Villa in den Wolken so verletzlich wie jetzt. Du stehst hier und bist nur noch ein Schatten von dem, was du einst gewesen bist. Ein Rest der Ruine von etwas, das mal was gewesen ist. Völlig unfähig, die Halle zu beschützen. Und von deinen menschlichen Seelenschützern ist auch kaum noch jemand hier.«
»Darum ging es also die ganze Zeit.« Endlich liefen die Fäden zusammen, und Rouven verstand. »Du hast diese ganzen Familien entführt, um mich zu schwächen.«
»Für den allerletzten Kampf. Ich sagte doch, dass ich vorbereitet bin. Alles ist bis ins kleinste Detail geplant. Du wirst sehen …«
»Fünf Ehepaare hast du bereits.«
»Zehn deiner netten Seelenschützer.«
»Und es gibt nur noch zwei Seelenschützer in dieser Stadt. Das letzte Paar.«
Jachael schnalzte mit der Zunge und lachte begeistert. »Jetzt hast du es wirklich verstanden. Ich brauche nur noch eine einzige Neumondnacht. Nur noch diese eine. Dann gehört sie wieder mir – diese ganze Seelenschützer-Bande. Tja, Rouven, ich glaube, du kommst etwas spät. Ich hatte dir ja Zeichen gegeben. Du erinnerst dich. Die Türen der Wohnungen hatte ich bemalt. Mit meinen Krallen Rosemarie und Tabitha deine Symbole in die Haut geritzt. Alles stets, um dich herbeizurufen. Aber du hattest ja deine Erinnerung völlig verloren. Da hatte es mir auch nichts genützt, dich nachts, in deinem Schlaf, in die Häuser zu locken. Du hast wirklich kein einziges Mal irgendwas verstanden, oder? Und dabei hatte ich mir solche Mühe gegeben.«
»Wo sind die Leute alle?«, fuhr Rouven ihn an. »Wo hast du die Seelenschützer hingebracht?«
»Mach dir keine Gedanken. Es geht ihnen gut!«
Rouven fasste Jachael am Hals. »Ich warne dich. Wenn du ihnen auch nur ein Haar gekrümmt hast. Wenn auch nur einer von ihnen …«
Jachael strahlte über das ganze Gesicht. »Dann? Was dann? Trittst du dann gegen mich an? Wird es dann zum Kampf kommen? Gern, Rouven, wenn das dein Wunsch ist, dem komme ich gerne nach. Im Moment schlafen sie alle und wissen von nichts. Aber ich kann zu ihnen gehen und sie der Reihe nach angreifen. Einen nach dem anderen. Wenn es das ist, was du möchtest. Wenn das die einzige Möglichkeit ist, meinen Kampf mit dir zu bekommen – dann gehe ich sofort dorthin und murkse ein paar ab. Soll ich eine bestimmte Reihenfolge einhalten? Hast du Wünsche?«
Rouven schrie auf. Er stemmte sich gegen Jachael
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