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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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Tabitha saß mit tränennassem Gesicht an Nanas Seite. Sie hielt eine Hand der Frau und blickte sie ratlos an.
    Nana wusste mit alledem nicht umzugehen. »Was habt ihr denn nur? Ist etwas passiert?«
    Tabitha ignorierte ihre Frage. Sie drehte sich Rouven zu. »War es das erste Mal, dass du ihr in die Seele gesprochen hast?«
    Rouven schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte es natürlich mehrfach versucht. Immer wieder. Schon am ersten Tag, als sie vor dem Wasserwerk stand. Ich wollte Informationen haben, damit ich ihr helfen konnte, nach Hause zu finden. Sie erinnerte sich stets nur bruchstückhaft an alles. Ich erfuhr auf diesem Weg von Michael, Arthur und Bernie. Aber mehr hatte ich nie von ihr erfahren. Ich vermute, dass es deine Anwesenheit war, zusammen mit meinen Worten, die bewirkten, dass Nana sich geöffnet hat.«
    Tabitha ergriff mit ihrer anderen Hand ebenfalls Nanas Hände. »Mir tut das alles so leid. Diese verfluchte Krankheit!«
    »Ich würde ihr so gern helfen«, sagte auch Rouven. »Wenn ich nur wüsste, wie man ihr Gedächtnis erreichen kann   …«
    Tabitha legte die Stirn in Falten. »Ihr Gedächtnis erreichen«, murmelte sie plötzlich. Sie sah nachdenklich in Nanas Gesicht.
    »Was ist mit dir?«, erkundigte sich Rouven.
    »Vielleicht habe ich eine Idee«, sagte Tabitha grübelnd. »Es ist verrückt, aber ist nicht die ganze Situation absurd?«
    »Was für eine Idee?«
    Tabitha wandte sich an Nana: »Magst du spazieren gehen, Nana?«
    Das Gesicht der Frau hellte sich auf. »Oh ja, und wie gerne. Wo geht es denn hin?«
    »Eine Freundin besuchen«, antwortete Tabitha.
    Und in diesem Moment verstand Rouven, was sie vorhatte. »Du glaubst, das könnte funktionieren?«
    Tabitha zog die Schultern in die Höhe. »Wie gesagt, etwas verrückt ist es schon.«
    »Aber tatsächlich einen Versuch wert«, antwortete Rouven und gewann wieder seine Tatkraft zurück. Auch er wandte sich Nana zu: »Dann mal los, Nana. Gehen wir spazieren.«
    Die Frau strahlte noch immer über das ganze Gesicht. »Wo bringt ihr beiden mich denn hin? Gehen wir was essen?«
    »Lass dich überraschen«, sagte Rouven und registrierte mit schlech tem Gewissen, dass er bisher noch nie mit Nana rausgegangen war. Er hatte sie stets in diesem Wasserwerk vor sich hin werkeln lassen, weil Nana niemals den Wunsch geäußert hatte, den Raum zu verlassen. Und Rouven selbst war nie auf die Idee gekommen, sie zum Spaziergang zu bewegen.
    Jetzt, wo er sah, wie sehr Nana sich auf einen Spaziergang freute, bereute er, sie nie ausgeführt zu haben und beschloss, das einmal nachzuholen.
    Dann, wenn all dies vorbei sein würde.
    Wenn   …
    Kaum waren sie aus der Tür getreten, blieb Nana stehen. Sie hielt das Gesicht der Sonne entgegen, schloss die Augen und atmete tief ein. Die Luft war erfrischend. Vögel zwitscherten verspielt um das Wasserwerk herum. Aus der Ferne erklang Kinderlachen.
    Sie waren nicht die einzigen Besucher des Parks. Rund um sie herum herrschte reges Treiben. Das wunderbare Spätsommerwetter hatte die Menschen aus den Wohnungen gelockt. Radfahrer, Jogger, Eltern mit Kinderwagen, Hundehalter mit ihren Tieren   – all das wirktewie das Bild einer Panorama-Postkarte. Und als Nana die Augen wieder öffnete, sah sie sich alles mit großem Interesse an.
    Tabitha und Rouven gewährten ihr diese Augenblicke. Beiden war bewusst, dass sie gegen die Zeit spielten. Beiden war klar, dass sie die letzte Seelenschützer-Familie so schnell wie möglich ausfindig machen mussten. Es war die einzige Möglichkeit, etwas gegen Jachael auszurichten, ohne dass Rouven sich zum Wächter zurückverwandeln musste. Ohne dass er sich in einen Zweikampf begab, in dem er von vornherein wenig Chancen für sich sah.
    Er blickte zu Tabitha, und sie schaute zu ihm. Sie nickte ihm zu, und Rouven verstand, dass sie gerade ebenso dachte wie er. Und dennoch: Nana sollte diesen Moment der Ruhe in der Natur auskosten.
    »Ach, ist das schön hier«, sagte Nana schließlich, blickte Tabitha und Rouven glückserfüllt an und ließ sich endlich durch den Park führen.
    Rouven hatte einige Bedenken, dass der Weg, den sie einschlagen mussten, für Nana zu weit sein könnte. Doch er staunte, dass Nana die lange Strecke ohne Murren mit ihnen ging. Er vermutete, dass sie früher vielleicht gern Wanderungen durchgeführt hatte.
    Die Sonne war schon ein weites Stück über den Himmel gezogen, als sie ihr Ziel endlich erreicht hatten.
    »Also, schön ist es hier nicht«, murrte

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