Sichelmond
oder wer mich schon mal mit diesem Namen gerufen hat … Ich kann es dir nicht sagen.«
Ratlos versuchte Tabitha, das alles in ihrem Kopf zu ordnen. Schließlich fiel ihr die alte Dame ein. »Und sie? Sie ist doch nicht wirklich deine Großmutter, oder?«
»Eines Tages stand sie im Park, ganz in der Nähe dieses Wasserwerks. Sie hatte sich verlaufen und war völlig verwirrt. Sie konnte mir nicht sagen, wer sie war oder woher sie kam. Sie war völlig aufgelöst und verwahrlost. In einem zerrissenen Nachthemd stand sie vor mir. Und das am Nachmittag. Ihre Haare waren zerzaust, ein Schuh fehlte ihr am Fuß, und an ihrer Nase klebte getrocknetes Blut. Sie stammelte wirres Zeug, und ihre Augen zitterten wild in den Augenhöhlen und fanden keine Ruhe und keinen Halt. Sie tat mir leid. Und natürlich: Sie erinnerte mich an den Tag, an dem ich selbst verloren und verängstigt im Park gestanden hatte.«
»Und dann hast du sie mit hierher genommen?«
»Erst einmal. Hier konnte sie sich ausschlafen, etwas essen und waschen. Und das tat ihr gut. In den nächsten Tagen rannte ich durch die Straßen. Ich hängte Zettel an Straßenlaternen und Zäune, in denen ich bekannt gab, dass eine ältere Frau aufgefunden worden sei. Ich suchte Altenheime in der Gegend auf und Krankenhäuser, doch niemand kannte die alte Dame. Und seither ist sie hier.«
»Hat sie einen Namen?«
»Ich nenne sie nur Großmutter. Oder lieber noch: Nana.«
»Nana?«
»Nach den Figuren der Künstlerin Nikki de Saint Phalle. Du kennst sie vielleicht.«
Tabitha nickte. »Ja, natürlich. Diese übergroßen, kunterbunten, tanzenden Frauenfiguren.«
Rouven grinste. »Und nun schau dir Nana mal an. Sie wirkt auf mich genau so lebensfroh und positiv wie diese Skulpturen.«
Tabitha schaute zu der Frau am Herd und begann ebenfalls zu grinsen. »Stimmt. Jetzt, wo du es sagst. Und die rundliche Körperfigur passt auch irgendwie.«
Rouven stupste sie in die Seite. »Na, lass sie das mal lieber nicht hören.«
»Und sie hört auf Nana?«
Er zog die Schultern in die Höhe. »Ihren richtigen Namen kenne ich nicht. Und sie weiß ihn wohl auch nicht mehr. Ich glaube, ich kann sie nennen, wie ich will. Das ist ihr gleich. Hauptsache ist, dass jemand in ihrer Nähe ist.«
Tabitha schaute grübelnd zu Nana. »Sie hat großes Glück, dass sie auf dich gestoßen ist«, sagte sie. Dann zog sich ein Lächeln über ihr Gesicht. »Und wer ist Bernie?«
Rouven blieb ernst. »Ich … nun, ich kenne mich da nicht so aus«, gab er mit bedrückter Stimme zur Antwort. »Aber ich glaube, dass sie an einer Demenz erkrankt ist. Du weißt schon, Alzheimer oder so etwas. Sie hat kein Gedächtnis mehr. Sie weiß gar nicht, wer ich bin, auch wenn ich es ihr schon tausendmal gesagt habe. Sie verwechseltmich. Mit ihren Enkeln. Mal bin ich Bernie, mal Arthur, mal Michael. Und ich habe mich dran gewöhnt.«
»Daran gewöhnt?«
»Ich spiele einfach mit. Inzwischen weiß ich, dass Arthur ein Bankangestellter ist. Michael hat wohl geheiratet und auch ein oder mehrere Kinder. Und Bernie ist der Faulenzer in der Familie. Er kriegt anscheinend gar nichts auf die Reihe.« Nun lachte Rouven doch. »Er ist mir der Sympathischste. Seine Rolle spiele ich am liebsten.«
Tabitha setzte sich etwas auf, um über das alte Rohr an ihrer Seite die alte Frau am Herd zu beobachten. »Und für sie ist das in Ordnung so?«
»Sie wirkt glücklich. Deshalb ist das für mich auch okay. Ich nenne sie meistens Großmutter, denn das ist sie ja auch. Wenn ich eine Großmutter hätte, dann müsste sie so sein wie sie. Du hast sie ja erlebt: so offen, herzlich, witzig. Ich mag sie gern. Auch wenn sie beinahe den ganzen Tag nur kocht.«
»Gut?«
Jetzt verzog Rouven sein Gesicht zu einem einzigen Grinsen. Er gluckste erst. Dann versuchte er sein aufkommendes Kichern zu unterdrücken. Doch es gelang nicht. Vor den Augen der überraschten Tabitha fing Rouven lauthals an zu lachen.
»Was ist?«, fragte Tabitha und zog die Augenbrauen kraus. »Was hast du denn?«
Rouven schüttelte sich vor Lachen. Schließlich prustete er hervor: »Sie kann nur Kartoffeln!«
Tabitha musste nun unwillkürlich mitlachen. Und Rouven erklärte, während er sein Lachen wieder unterdrückte: »Sie hat alle Rezepte vergessen. Nur die Kartoffelrezepte nicht. Es gibt hier jeden Tag Kartoffeln. Den ganzen Tag.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Und ich hasse Kartoffeln. Ich krieg sie kaum noch runter. Aber Nana hat so einen Spaß
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