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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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etwas bücken, um sich nicht den Kopf anzustoßen.
    Als die eiserne Tür hinter ihnen lautstark ins Schloss fiel, legte sich Dunkelheit über die beiden, und Rouven spürte, dass Tabitha ängstlich den Druck ihrer Hand verstärkte.
    »Keine Angst«, flüsterte er ihr zu. »Wir sind gleich da.«
    Tatsächlich, vor ihnen erblickte Tabitha Licht. Und wenn sie sich nicht täuschte, dann hörte sie sogar eine menschliche Stimme. Jemand sang.
    »Ich lebe hier nicht allein«, sagte Rouven, so, als fühlte er sich verpflichtet, den Gesang zu erklären. »Du wirst es gleich sehen.«
    Sie gingen weiter auf das Licht zu. Und mit jedem Schritt spürte Tabitha, wie sich Rouven mehr und mehr entspannte.
    Tabitha konnte kaum glauben, was sie zu sehen bekam, als die beiden den hellen Raum betraten. Damit hätte sie niemals gerechnet. Nicht hier, in dem sonst so kalten, hässlichen, schmutzigen Stahlkasten.
    Es gab nur einen einzigen Raum. Dieser war allerdings so riesig, dass Tabithas elterliche Wohnung vermutlich komplett hineingepasst hätte. Die Wände, Decken, ja sogar der Boden waren mit dicken Stahlrohren überzogen. Wo immer man hinsah, erblickte man Ventile in allen Größen, Halterungen oder Steigeisen, die in die Wände eingelassen worden waren. Tabitha vermutete, dass von diesem Wasserwerk wahrscheinlich die gesamte Wasserversorgung für den riesigen Stadtteil am Park geregelt worden war. Doch mit den kühlen, verschmutzten Wasserwerken, wie Tabitha sie aus manchen Filmen kannte, hatte dieser Raum nichts gemeinsam. Auf den meisten Ventilen, die an den Bodenrohren angebracht waren, standen Stumpenkerzen, jeweils mit einer bunten Serviette darunter. Der Boden selbst war   – so gut dies zwischen all den Rohren möglich war   – mit Teppichen und Bodenläufern bedeckt, die zwar nicht zusammenpassten, in ihrer Einheit aber wie eine große Patchwork-Tagesdecke wirkten, wie Tabitha sie zu Hause auf ihrem Bett liegen hatte. Auch an den Rohren der Wände waren Teppiche angebracht, um so die nüchterne Kühle zu unterbrechen.
    Durch die riesige Mitte des Raumes verliefen keine Rohre. Hier war das eigentliche Zuhause eingerichtet: ein Tisch in der Mitte mit vier Stühlen darum. Daneben ein alter Ledersessel und eine Couch, die mit allerlei Decken überfrachtet war. Ein Regal stand daneben und wirkte gerade so, als vermisse es eine gerade Wand hinter sich, gegen die es sich lehnen könnte, um all das zu tragen, was man ihm aufgeladen hatte: turmhoch gestapeltes Geschirr, unzählige Bücher, mehrere Bügeleisen, Kisten, Kartons, Tüten.
    Dem Regal gegenüber befanden sich ein kleiner Schrank und ein riesiger Bollerofen, an dem eine alte Frau stand. Sie hantierte mit Töpfen und Bratpfannen an dem Ofen und war so vertieft in ihr Kochen, dass sie den Besuch nicht bemerkt hatte. Von all den Besonderheiten in diesem Wasserwerk war diese Frau das Außergewöhnlichste, fand Tabitha. Sie wirkte glücklich, ja beseelt, wie sie an dem Herd stand und sich liebevoll auf jeden einzelnen Handgriff konzentrierte.
    Und: Sie sang.
    Rouven führte Tabitha in die Mitte des Raumes an den Tisch und verkündete: »Ich bin wieder da, Nana.«
    »Bernie?« Sie drehte sich nach ihm um, erfreut, ihn hier zu wissen. Doch dann fiel ihr Blick auf Tabitha. Die Augen weiteten sich vor Freude. Hastig stellte die Frau den Topf ab, den sie in den Händen gehalten hatte, wischte sich die Finger an ihrer Schürze, bevor sie auf Tabitha zugestürmt kam.
    »Clara!«, begrüßte sie das Mädchen. Sie nahm beide Hände in ihre. »Wie lange habe ich dich schon nicht mehr gesehen!«
    Tabitha schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht   …«
    Rouven gab ihr hinter dem Rücken der Frau ein Zeichen. Er schüttelte heftig den Kopf und wies auf die Frau. Tabitha verstand sofort: »Ja«, sagte sie. »Ich freue mich auch, dich wiederzusehen. Geht es dir gut?«
    Die Frau strahlte. »Wie sollte es mir schlecht gehen? Hier, in meinem Heim. Mit Arthur, Michael und Bernie, die sich um mich kümmern.« Sie drehte sich um und reichte Rouven eine Hand. »Wunderbare Jungen hast du zur Welt gebracht, Clara. Du kannst stolz sein auf deine Söhne.«
    Tabitha musste sich ein Grinsen verkneifen, doch sie spielte weiter mit, obwohl sie kaum verstehen konnte, was hier geschah. »Ja. Stolz. Äh   … Auf meine Söhne. Nun ja, das bin ich wohl auch.«
    Sie schaute unsicher zu Rouven, der ihr wiederum beglückt entgegensah. Zuerst dachte Tabitha, er wäre nur froh, dass sie dieses merkwürdige

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