Sichelmond
Spiel mitmache, doch dann wurde ihr schnell bewusst, dass sie wieder gesprochen hatte. Ganze Sätze. Die alte Dame hatte etwas in ihr bewegt, und für einen Moment war Tabitha aus ihrem Schweigen ausgebrochen. Und vor allem: Die Frau hatte ihr die Angst genommen. Jetzt bestätigte sich Tabithas Entschluss, Rouven begleitet zu haben. Was vor einigen Stunden noch ein vollkommen verrückter Impuls gewesen war, schien sich nun als richtige Entscheidung zu erweisen. Etwas an diesem Rouven war besonders. Etwas an ihm rief in Tabitha Gefühle hervor, die sie dazu gebracht hatten, mit ihm zu laufen. Sie hatte ihm seine Verwirrung geglaubt. Sie hatte schnell Vertrauen zu ihm geschöpft. Und sie spürte vor allem eines: dass er dringend Hilfe brauchte.
Nun stand sie hier, in diesem bizarren Zuhause. Sie war in eine so völlig fremde Welt eingetreten, dass sie die Erinnerung an das, was sie in der Nacht zuvor hatte erleben müssen, tatsächlich für einen Augenblick vergessen hatte.
Und: Sie hatte gesprochen. Noch vor wenigen Momenten hatte sie die Befürchtung gehabt, mit ihrer Stimme, die sie in der vergangenen Nacht nur zum Schreien benutzt hatte, neues Unheil heraufzubeschwören, wenn sie sie benutzte. Doch hier, in diesem Wasserwerk und gegenüber dieser Frau, die sie mit einer Herzlichkeit betrachtete,wie Tabitha sie bisher nur selten erlebt hatte, fühlte sie sich frei. Nein, mehr noch: willkommen. Oder: geborgen.
Die Frau hatte Tabitha die Angst vor der eigenen Stimme genommen. Einfach so. Nur mit ihrer offenen, herzlichen Art. Ein einziger Impuls. Wie ein Fingerschnippen. Und jetzt, wo auf Tabithas Worte nichts Schlimmes geschehen war, wagte sie es, weiterzusprechen. »Danke«, sagte sie.
Die Frau stand noch immer vor ihr und strahlte sie an. »Ach, hier stehen wir und schwätzen. Dabei muss ich mich doch um das Essen kümmern. Clara, du bleibst natürlich zum Essen, nicht wahr? Ich mache Kartoffeln.«
Tabitha zögerte keine Sekunde: »Natürlich, ich bleibe gern.«
Die Frau lachte über das ganze Gesicht. »Wie schön. Dann muss ich mich sputen.« Und damit wandte sie sich um und eilte sich, an den Herd zu kommen.
Tabitha blickte fragend zu Rouven. Der lachte nur: »Darf ich dir ein Wasser anbieten, liebe Mutter?«
Gemeinsam verfielen sie in schallendes Gelächter.
M ayers stieß die Tür zum Büro so heftig auf, dass Tallwitz erschrocken hochfuhr. »Das Labor hat unter Hochdruck gearbeitet«, sagte Mayers. »Das Ergebnis der Blutuntersuchung liegt schon vor.«
Tallwitz war sichtlich überrascht. »So schnell? Normalerweise vergehen ganze Tage, bis …«
Mayers schüttelte den Kopf. »Zurzeit reicht es schon, das Wort ›Neumond-Täter‹ auszusprechen, dann geraten alle Kollegen in Übereifer. Wenigstens mal ein Vorteil, den die reißerischen Berichte der Medien hervorbringen.«
»Und? Was kam bei der Untersuchung heraus?«
»Die größere Blutlache gehört zu unserem Neumond-Täter. Gleiche DNA wie in den Fällen zuvor.«
»Und das Blut an den Fesseln?«
Mayers sank auf den Stuhl vor Tallwitz’ Schreibtisch. Es war ihm anzusehen, dass er diese Antwort gern schuldig geblieben wäre: »Steht noch nicht fest. Sicher ist nur, dass es nicht sein Blut ist.«
»Jemandem aus der Familie?«
»Wissen wir noch nicht. Das wird gerade alles abgeglichen«, antwortete Mayers, und Tallwitz stöhnte auf. »So einen komplizierten Fall hatten wir noch nie. Immer wenn man denkt, man ist einen Schritt weiter …«
»… werden neue Fragen aufgeworfen. Ich weiß.«
»Es hat bisher noch niemals Verletzungen gegeben – bis auf seine eigenen«, grübelte Tallwitz laut vor sich hin. »Gab es irgendwelche Fingerabdrücke am Tatort?«
Wieder schüttelte Mayers den Kopf. »Nichts. Nicht einmal von unserem Täter.«
»Und jetzt?«
»Ich habe vorhin mit dem Polizeipräsidenten gesprochen. Er wollte Neuigkeiten von mir wissen, und als er hörte, dass es nicht mehr bei den Entführungen geblieben ist, wurde er nervös.« Mayers erhob sich wieder von seinem Stuhl. »Wir bekommen Verstärkung. Eine Hundertschaft an Polizisten.«
»Das ist gut.«
»Wir werden ihn suchen. Und wir werden ihn finden. Und dann lass uns hoffen …«
»… dass von all den Entführten noch jemand am Leben ist«, beendete Tallwitz den Satz, und nachdenklich fügte er hinzu: »Einfach schrecklich, dass genau diese Familie jetzt betroffen ist. Nach allem, was sie schon durchmachen musste.«
Mayers nickte: »Das habe ich mir auch schon
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