Sichelmond
dabei. Und sie … sie …« Jetzt prustete er wieder los. »Sie … sie kann nun mal nichts anderes.«
Tabitha verfiel ebenfalls in lautes Lachen. Die beiden alberten herum wie kleine Schulkinder, in ihrer Ecke zwischen den alten, dicken Wasserrohren. Sie lachten über die groteske Situation. Sie lachten über sich selbst. Und sie lachten über all das Elend, das ohne etwas Humor unerträglich gewesen wäre.
Tabitha war schließlich die Erste, die sich beruhigte. »Ich werde ihr ein paar Rezepte zeigen«, schlug sie vor, doch Rouven winkte ab: »Kannst du vergessen. Sie merkt sich nichts. Sie hat auch längst vergessen, dass du da warst.«
Nun verging Tabitha augenblicklich ihr Lachen. »Was? Bist du sicher? Das kann nicht sein.«
»Sie wird sich nicht an dich erinnern.«
»Das glaube ich nicht. Sie hat mich so offenherzig begrüßt und …«
Rouven erhob sich von seinem Platz und zog Tabitha am Handgelenk. »Komm, ich zeig’s dir.«
Gemeinsam gingen sie an den Bollerofen, wo sich Nana auf ihre Arbeit an den Töpfen konzentrierte. Neben ihren Füßen stand ein riesiger Eimer, gefüllt mit Kartoffeln.
Rouven ging nahe an sie heran: »Nana?«
Sie wandte sich um und die Freude in ihrem Gesicht war echt. »Arthur! Das ist nett. Ich bin gleich fertig mit Kochen, dann können wir essen. Du bist doch bestimmt hungrig nach der Arbeit.«
Rouven lächelte sie an. »Ja, und wie. Die Leute in der Bank heute … Ach, sprechen wir nicht davon.«
Nun fiel der Blick der Großmutter auf Tabitha. Sie musterte das Mädchen, dann knuffte sie Rouven in die Seite. »Du musst mir auch sagen, wenn du Besuch mitbringst.« Und zu Tabitha gewandt sagte sie: »Guten Abend, Sie sind bestimmt eine Kollegin, oder?«
Tabitha stiegen Tränen in die Augen. »Ja«, sagte sie schnell. »Eine Kollegin.«
Die Großmutter knuffte Rouven erneut: »Bestimmt die hübscheste der ganzen Bank, oder? Du hattest schon immer einen guten Geschmack, was deine Freundinnen betrifft. Und nun geht, ihr beiden. Geht nur. Ich rufe euch, wenn das Essen fertig ist.«
Und damit drehte sie sich um und rührte singend in ihren Töpfen und Pfannen.
Tabitha lief zurück in Rouvens Ecke.
Er folgte ihr hastig. »Tabitha!«
Als sie sich umdrehte, liefen heiße Tränen über ihr Gesicht. »Sie tut mir so leid!«
»Sie hat kein Langzeitgedächtnis und kein Kurzzeitgedächtnis«, erklärte Rouven. »Sie erinnert sich nur an die Dinge, die sie noch aus der Zeit ihrer Familie kennt. Dinge, die einige Jahre zurückliegen müssen. Aber ich bin mir sicher, dass sie all diese Erinnerungen auch durcheinanderbringt. Vielleicht heißen ihre Enkel gar nicht Michael, Bernie oder Arthur. Vielleicht sind das ganz andere Menschen, die ihr einmal nahestanden und von denen sie nun glaubt … Wie gesagt: Ich kenne mich da nicht so aus.«
»Das muss doch furchtbar für sie sein, oder?«
»Glaub mir: Es ist okay für sie. Anfangs dachte ich so wie du. Doch um ehrlich zu sein: Mittlerweile beneide ich sie geradezu.«
»Wie meinst du das?«
»Ich würde sofort mein Leben mit ihr tauschen.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Lieber habe ich – so wie sie – kein Gedächtnis, aber schöne Erinnerungen an meine Vergangenheit, als so zu leben wie ich: ohne Gedächtnis und ohne Vergangenheit.«
Tabitha sah ihm fest in die Augen. Seine Worte klangen in ihr nach. Und ein einziger Wunsch machte sich in ihr breit. Sie streckte die Arme nach ihm aus und drückte ihn fest an sich.
Rouven schloss die Augen. Er genoss die Umarmung.
Er genoss die Tatsache, dass er bald eine Vergangenheit haben würde. Diesen Moment würde er tief in sein Herz aufnehmen und sich gern daran erinnern.
Zum ersten Mal war er ein Mensch mit einer echten Erinnerung.
Nun war es Rouven, dem die Tränen in die Augen stiegen.
S ie merkten gar nicht, wie die Zeit verging, während sie eng umschlungen in Rouvens Ecke zwischen den riesigen Wasserrohren standen. Doch irgendwann war es Rouven, der sich von Tabitha löste.
»Ich hab dir alle deine Fragen beantwortet«, sagte er. »So gut es mir möglich war. Nun möchte ich dir ein paar Fragen stellen.«
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich von einer Sekunde auf die nächste. Ihr wurde klar, dass er über die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Nacht sprechen wollte. Und obwohl sich alles in ihr weigerte, wusste sie, dass sie ihm das Unaussprechliche schildern musste. Das war sie ihm schuldig, nach aller Ehrlichkeit, mit der Rouven ihr
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