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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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bisher begegnet war.
    »Was möchtest du wissen?«, fragte sie ihn also.
    Rouven griff unter seine Matratze und fischte den Zettel hervor, der vor einigen Tagen auf dem Küchentisch gelegen hatte. »Nana hatte Besuch«, sagte er. »Doch sie konnte sich schon am Abend, als ich hierherkam, nicht mehr erinnern, wer da gewesen war. Ich kann dir also nicht sagen, wer ihn   …«
    Sie stoppte seinen Redefluss, indem sie einen Finger auf seinen Mund legte. Aus seiner Nervosität las sie heraus, wie bedeutungsvoll dieses kleine Stück Papier sein musste. Ohne ein Wort zu verlieren, griff sie danach und zog es aus seiner Hand. Sie war gespannt, was sie darauf finden würde. Von allen Fragen, die er ihr hätte stellen können, war ihm diese die wichtigste. Und obwohl sie ihm gegenüber eine beachtliche Ruhe ausstrahlte, schwirrten auch in ihrem Kopf unzählige Fragen. Sie konnte es kaum erwarten, den Zettel auseinanderzufalten,um zu erfahren, was ihm so wichtig daran war, und vor allem, was dieser Zettel mit ihr zu tun haben sollte.
    Sie nickte ihm ermutigend zu, dann faltete sie das Papier auseinander und warf einen Blick darauf.
    Ihr wurde schwindlig. Der Magen drehte sich ihr um, und am liebsten hätte sie den Zettel sofort weit von sich geworfen. Augenblicklich verstand sie. Hier hielt sie die Antwort auf alle Fragen in den Händen, die ihr noch vor wenigen Sekunden durch den Kopf geschossen waren. Sie blickte auf die gezeichnete Mondsichel und die Vogelkralle darunter.
    Rouven bemerkte sofort, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Er legte eine Hand auf ihre Schulter: »Was ist mit dir?«
    Sie hob den Blick. Sie schaute noch einmal auf den Zettel, dann erneut in Rouvens Gesicht, bevor sie den Zettel zur Seite legte und ihren linken Arm ausstreckte.
    Rouven rückte ein Stückchen von ihr ab, damit sie sich frei bewegen konnte, und starrte sie verwirrt an.
    Ihr Blick war beängstigend. Sie sah ihm mit einer Mischung aus Abscheu und Verunsicherung in die Augen.
    Rouven verstand nicht. Auch er schaute noch einmal auf die Skizze des Zettels, der nun zwischen den beiden lag. Diese Skizze, die er sich in den vergangenen Tagen schon unzählige Male angeschaut hatte. Wieder und wieder. Nur um zu verstehen.
    Tabitha legte einen Finger an sein Kinn und hob seinen Kopf an. Gerade so, dass er ihr in die Augen schauen konnte, die noch immer diesen furchterregenden Blick in sich bargen.
    Dann führte sie ihren Finger von seinem Kinn zu ihrem Handgelenk. Rouven erinnerte sich daran, dass sie schon bei ihrer ersten Begegnung in der verwüsteten Wohnung mehrfach auf den Ärmel geschaut hatte.
    Nun ergriff sie mit den Fingerspitzen den Ärmel ihrer Strickjacke und schob ihn langsam in die Höhe.
    Rouven entfuhr ein Schrei. Tabitha senkte den Blick und schaute a uf ihren Unterarm. Gerade so, als sehe sie es zum ersten Mal, doch es war ihr schon beinahe vertraut   – dieses Bild eines Halbmondes.
    Eingeritzt in ihre Haut.
    Ein Halbmond und etwas, das wie eine Kralle aussah.
    Rouven blickte verständnislos darauf. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Für ihn gab es keine Erklärung. Er blickte erst auf Tabithas Arm, dann auf den Zettel mit der Zeichnung und den Worten »Suchst du dich, dann folge den Symbolen, Rouven«. Nun hatte er sie gefunden. Die Symbole. Doch was hatte das alles mit Tabitha zu tun?
    Wie gebannt starrte Rouven auf die in Tabithas Haut eingeritzten Zeichen, als seine Gedanken plötzlich unterbrochen wurden. Ein Tropfen fiel auf die noch frische Wunde und spülte etwas Blut heraus. Dann ein zweiter Tropfen. Ein dritter.
    Rouven blickte auf. Über Tabithas Gesicht liefen Ströme von Tränen. Sie tropften an ihrem Kinn ab und fielen auf den Unterarm. Sie sah völlig verstört aus.
    Rouven verstand sofort: Bisher hatten die Angst und Rouvens ungewöhnliche Welt sie daran gehindert, über all das nachzudenken, was in der vergangenen Nacht geschehen war. Doch die gezeichnete Wunde an ihrem Arm rief ihr jetzt die Realität wieder ins Gedächtnis. Nun musste sie sich dem stellen, was sie mit ihrem Schweigen und dem Interesse an Rouven bisher hatte verdrängen können.
    »Diese letzte Nacht   …«, brachte sie hervor. »Ich kann meine Eltern nicht mehr finden.« Und damit drückte sie sich beide Hände auf das Gesicht und begann lauthals zu weinen.
    Rouven wusste sich nicht zu helfen. Er rückte nahe an sie heran, legte erst einen Arm um sie, dann hielt er sie mit beiden Armen fest. Hier saßen sie, wie Strandgut, dachte

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