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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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alles erzählt heute Abend.«
    »Was meinst du?«
    »Während des Überfalls auf uns ist noch etwas geschehen.«
    »Ja?«
    »Etwas, das ich dir nicht gesagt hatte.«
    Rouven blickte sie nachdenklich an, und Tabitha erklärte schnell: »Ich sehe doch, wie fertig du bist wegen dieser ganzen Angelegenheit. Da wollte ich heute Abend nicht   …«
    »Es geht um mich?«
    Sie nickte und wandte sich wieder ab.
    »Was ist es? Was hast du mir nicht erzählt?«
    Tabitha begann zu schluchzen. Sie wollte es nicht sagen, aber sie konnte nun auch nicht mehr zurück. Sie zog den Ärmel ihrer Strickjacke so in die Höhe, dass ihre Wunde wieder sichtbar wurde: die in die Haut eingeritzte Skizze. Mit gefasster Stimme sagte sie: »Er hat zu mir gesprochen.«
    »Wer?«
    »Derjenige, der uns überfallen hat. Als er dieses Muster in meine Haut geritzt hatte.«
    Rouven konnte den Blick nicht von der Zeichnung in Tabithas Haut wenden. »Er hat gesprochen?«
    Sie nickte. »Bevor er mir die Augenbinde abgenommen hat. Er saß hinter mir, sodass ich ihn nicht sehen konnte. Dann ist er nahe an mich herangerückt. Mit seinem Mund kam er dicht an mein Ohr.« Sie schüttelte sich bei der Erinnerung. »Er flüsterte mit einer Stimme, die ich dir nicht beschreiben kann.«
    »Was hat er gesagt?«
    Tabithas Stimme füllte nun ebenfalls auf unheimliche Weise die Halle des Wasserwerks, als sie die Worte ihres Angreifers wiederholte: »Er sagte: › Zeig dem Wächter der Halle deinen Arm. Dann wird er langsam verstehen. ‹ Und dann hat er mit seinen Fingern auf die geritzte Zeichnung auf meinem Arm gedrückt. Es tat höllisch weh. Ich hörte so etwas wie das Schnalzen einer Zunge. Kennst du dieses Geräusch? Es ging mir durch Mark und Bein. Sekunden später war er verschwunden.«
    »Wächter der Halle?«, hakte Rouven nach. »Meint er mich damit?«
    Tabitha zog den Ärmel der Strickjacke schnell wieder über die Wunde. »Es war eindeutig, dass er dich damit meinte.«
    »Wieso   …«
    »Etwas später, als ich mich gegen die Wand lehnte und dich erblickte, war ich mir sicher.«
    »Dass ich mit Wächter der Halle gemeint bin?«
    Sie nickte.
    »Aber warum? Was hat dich so sicher gemacht? Weißt du, was das bedeutet: Wächter?«
    »Nein.«
    »Und dennoch warst du dir sicher.«
    Sie sah ihm direkt in die Augen. »Du schaust nicht oft in einen Spiegel, oder?«, fragte sie, und Rouven verstand nicht. Tabitha seufzte: »Dass ausgerechnet ich dir das sagen muss   …!«
    »Wovon sprichst du?«
    »Hast du einen Spiegel?«
    Rouven blickte sich in dem Wasserwerk um. »Nein. Ich   … doch, warte. Für Nana hatte ich mal einen besorgt. Ich hatte ihn an einer Hausecke gefunden, zwischen alten Möbeln, die als Müll dort standen.«
    »Hol ihn her!«
    »Ich verstehe immer noch nicht   …«
    »Bring den Spiegel einfach hierher. Dann wirst du verstehen.«
    Grübelnd blickte Rouven auf Tabitha: Kurz zögerte er noch, dann wurde ihm klar, dass er gar nicht anders konnte. Er erhob sich von der Matratze, auf der sie saßen, und ging in die gegenüberliegende Ecke des alten Wasserwerks. Dorthin, wo Nana schlief. Kurz darauf war er wieder zurück. Er brachte einen meterhohen Wandspiegel, der in einen kitschigen Rosenrahmen eingefasst war und einen tiefen Sprung über die ganze Fläche aufwies.
    »Und nun?« Rouven stellte den Spiegel vor Tabitha ab.
    Sie stand auf und griff sich den Spiegel. »Zieh dein Shirt aus«, sagte sie und setzte ein knappes »Bitte« hinterher. »Mir ist an dem Morgen etwas aufgefallen. An dir. Etwas, das du selbst nicht zu wissen scheinst.«
    Rouven wunderte sich mehr und mehr. Doch er tat, worum sie ihn bat.
    Mit einem erneuten Seufzer, der verriet, dass sie dies lieber nicht machen wollte, stellte sich Tabitha hinter Rouven und hob den Spiegel etwas an. »Schau hin!«
    Rouven wandte den Kopf. Im Spiegel sah er sein rechtes Schulterblatt. Und was er erblickte, nahm ihm augenblicklich den Atem. Er riss die Augen auf, schaute noch einmal hin, dann schrie er auf, dass es durch die ganze Halle des Wasserwerks tönte.
    Im Spiegel erkannte er eine Vogelkralle und daneben eine Mondsichel. Sie hatte die gleiche Form wie die auf den Skizzen an den Türen, auf dem Zettel und auf Tabithas Unterarm. Das Bild der Kralle war Rouven in die Haut eingewachsen. Er war wie gebrandmarkt mit den Symbolen, die ihn seit Monaten verfolgten. Ähnlich einem riesigen Muttermal prangten die Zeichen auf seiner Haut.
    Tabitha stand noch immer hinter Rouven und hielt den

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