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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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Bewohnern dieser Halle, die keine Vergangenheit besitzen, kommt nun noch eine, die ihre Vergangenheit ausblendet.
    Doch zu Tabitha gewandt sagte er nur: »Ich kann dir zeigen, wo ich das Essen für Nana und mich auftreibe. Du kannst eine meiner Jacken anziehen, wenn du magst.«

B isher war Rouven diesen Weg immer sehr gern gegangen. Er hatte den Spaziergang durch den Park und die Straßen immer genossen und sich auf das Ziel gefreut.
    Doch heute war es völlig anders. Nicht nur, dass er tief in seine Gedanken vergraben war und sich mit dem Gefühl des Schuldigseins auseinandersetzte. Nein, er musste mit Tabitha die engen, kleinen Gassen gehen und stets auf der Hut sein, nicht entdeckt zu werden. Er empfand es als Belastung und fühlte sich geradezu erschöpft.
    »Wo führst du mich denn hin?« Tabithas Stimme und ihre offensichtlich gute Laune taten Rouven gut und verhinderten, dass er trübsinnig wurde. Auch wenn ihm natürlich bewusst war, dass diese gute Laune lediglich gespielt war, um ihn aufzuheitern.
    »Abwarten«, sagte er nur knapp. »Wir sind gleich da.«
    Und tatsächlich, schon bogen sie um die Ecke in die Lindenallee. Rouvens Blick fiel auf den Gemischtwarenladen schräg auf der anderen Straßenseite, an der Ecke zum Buchenweg, und er lächelte. Sonst war dort nie etwas los, doch heute konnte Rouven gleich drei Männer entdecken, die in dem Laden oder vor der Eingangstür auf der Straße standen. Zwei der Männer schauten zu ihnen herüber. Der Inhaber des Ladens, ein extrem dürrer Mann in einem langen weißen Kittel, verschwand in seinem Geschäft, kurz nachdem er Rouven erblickt hatte. Es schien, als habe er es eilig hineinzukommen. Vielleicht hat er noch weitere Kundschaft, dachte Rouven, dann hatten Tabitha und er die Tafel erreicht.
    Früher war in dem Gebäude ein Supermarkt gewesen, der nun von einer Hilfsorganisation zu dieser Tafel umgestaltet worden war. D urch die riesigen Schaufenster drang das Tageslicht auch bis in den hintersten Winkel, und so war der erste Eindruck, den Tabitha beim Betreten des Gebäudes gewann, sehr positiv. Die Wände waren zudem hell gestrichen worden, in einem warmen orangefarbenen Ton. In der hinteren Ecke war ein Kinderbereich eingerichtet. Ein kleines Klettergestell stand dort bereit, ebenso ein winziges Bällebad sowie Puzzleteppiche, Puppen, Spielzeugautos und eine Spielzeugküche aus Holz. Tabitha kicherte. Vor allem schienen dort viele Stifte bereitzuliegen, denn die beiden Wände der Ecke waren von den Kindern bunt bemalt worden. Krumme Strichmännchen schienen auf der Wand zu tanzen, umgeben von verwackelten Einhörnern, Pferden, Wolken. Aber auch echte kleine Kunstwerke konnte Tabitha von hier erkennen. Es schienen auch ältere Kinder regelmäßig hierherzukommen.
    Der ganze Raum war gefüllt mit langen Tischreihen, auf denen Tischdecken ausgebreitet waren, die farblich wunderbar zur Wandfarbe passten. Einmachgläser mit Blumen standen in jeder Tischmitte, daneben mehrere Tassen, in denen Essbestecke griffbereit standen.
    Links neben der Eingangstür war der Ausgabebereich aufgebaut worden: eine lange Theke, an der links warmes Essen ausgeteilt wurde, das hier im Haus verzehrt werden konnte, während auf der rechten Seite Lebensmittel in Tüten herausgegeben wurden, die von den Leuten mit nach Hause genommen werden konnten.
    »Das meiste von dem Essen, was du hier siehst, sind Spenden aus den Supermärkten der Gegend«, erklärte Rouven. »Es sind Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden dürfen, die aber nicht etwa schlecht sind oder so etwas. Es sind schlicht Überproduktionen einer Zivilisation, die es gewohnt ist, alles zu jeder Zeit kaufen zu können.«
    Tabitha nickte und schaute sich weiter um. Sie war überrascht. Solch einen Raum hätte sie sich trostloser vorgestellt.
    An den Tischen saßen bereits einige Menschen. Eine Familie konnte Tabitha entdecken, einige Männer, bei denen Tabitha von ihrer Kleidung schloss, dass es sich um Obdachlose handelte, und mehrere ältere Frauen, die sich angeregt unterhielten und dabei die Suppe löffelten, die heute anscheinend verteilt worden war.
    Plötzlich wurden sie bemerkt. Zwei der Männer an den langen Tischen erkannten Rouven, und sofort hellten sich beide Mienen auf. Sie winkten Rouven vergnügt zu. Gerade so, als versüße ihnen der Anblick des Jungen ihren Tag.
    Tabitha beobachtete verwundert, wie Rouven ihnen lächelnd zurückwinkte und die beiden Männer sich über diese Geste freuten, als habe

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