Sichelmond
Spiegel für ihn. Über ihr Gesicht rannen heiße Tränen. Tränen des Mitgefühls für Rouven.
M ayers zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe. Er hätte niemals geglaubt, dass ein Mensch dünner sein konnte als seine eigene Stimme. Doch bei diesem Mann, dem er gerade gegenüberstand, traf dies völlig zu. Vor ihm stand ein Mensch, bei dem man das Gefühl bekam, ihn stützen zu müssen. Sein weißer Arbeitskittel hing schlaff wie an einem Kleiderständer an ihm herunter. Dazu ein eingefallenes Gesicht, Knochen, die sich deutlich sichtbar unter dem Kittel abzeichneten, und die dünnsten Finger, die Mayers jemals gesehen hatte.
Also, wenn der mal in einen Unfall verwickelt wird, dachte Mayers, dann braucht man kein Gerät, um ihn zu röntgen, es reicht sicherlich aus, eine Taschenlampe hinter ihn zu halten.
»Sie sind ja wirklich gekommen«, sagte der Mann und streckte Mayers die Hand entgegen.
Mayers schüttelte es innerlich bei dem erneuten Klang der dünnen Stimme. Doch noch mehr Unbehagen bereitete ihm, die Hand dieses Menschen ergreifen zu müssen. Es war, als ob man in einen Haufen Streichhölzer griff.
»Natürlich«, gab Mayers zur Antwort und zog rasch seine Hand wieder zurück. »Sie haben uns gerufen, und hier sind wir. Das ist übrigens mein Kollege Tallwitz.«
»Angenehm«, grüßte der Verkäufer höflich und reichte auch Tallwitz die Hand. Entgegen Mayers Gefühlen schien Tallwitz der Kontakt nichts auszumachen. Oder er konnte es gut verbergen.
»Lasch ist mein Name«, sagte er, und Mayers konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Also, wenn es einen Namen gab, der hundertprozentig zu diesem Menschen passte, dann war es »Lasch«.
Schnell wandte sich Mayers ab, damit Lasch das Grinsen nicht sehen konnte, und blickte sich um. In diesem winzigen Laden gab es eine Auswahl wie in den meisten größeren Supermärkten. Die Regale waren bis an die Decke vollgestopft. Selbst auf dem Boden und den Fensterbänken waren Dosen und Päckchen gestapelt. Die Kasse ging beinahe unter zwischen all den Tüten und Kartons, die auf dem Tresen ausgestellt waren.
Mayers konnte nicht einmal die Farbe der Wände erkennen. Es gab nirgends eine Lücke zwischen all den Angeboten, durch die er ein Stück der Wand hätte erspähen können. Kunden konnte er ebenfalls keine erblicken. Doch er vermutete, dass er welche finden würde, wenn er erst einmal ein paar Säcke und Regale aus dem Weg räumen würde. Er konnte sich bildhaft vorstellen, dass schon mehrere Menschen in diesem Gewühl verlorengegangen waren und den Ausweg nicht mehr gefunden hatten.
Mayers lächelte. Dann konzentrierte er sich wieder auf seine Arbeit. »Nun, Herr Lasch, was haben Sie für uns?«
»Wie ich bereits am Telefon sagte: Ich habe den Jungen auf dem Zeitungsfoto erkannt«, erklang dünn die Antwort.
»Das sagten Sie bereits. Warum melden Sie sich erst jetzt? Die Zeitung ist schon vor Wochen erschienen.«
Nervös schaute Lasch zur Seite. Diese Antwort war ihm sichtlich peinlich. »Ich lese die Zeitung nicht«, sagte er drucksend. »Ich nehme sie, um Salate darin einzuwickeln. Und erst gestern hatte ich die Ausgabe in der Hand, auf der das Foto ist. Eine Kundin hatte einen Kopfsalat bestellt und …«
Mayers winkte ab. »Schon gut. Das hab ich verstanden. Aber: Sind Sie sicher, dass der Junge auf dem Foto wirklich der ist, den Sie gesehen haben wollen?« Ein wenig zweifelte der Beamte schon an der Zurechnungsfähigkeit des Verkäufers.
Lasch allerdings nickte überzeugt. »Ganz sicher.« Aus seiner Jackentasche zog er die Titelseite der Zeitung hervor, auf der Rouvens Gesicht abgebildet war. »Ein sympathischer Mensch«, sagte ergrübelnd. »Kaum zu glauben, dass er in Häuser einbricht und Menschen verschwinden lässt.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«, frage Mayers, und der Verkäufer antwortete ohne nachzudenken: »Montag.«
Mayers staunte. »Und da sind Sie so sicher?«
»Und heute Nachmittag wird er wieder hierherkommen.
Jetzt kam Mayers aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Und das können Sie so vorhersagen?«
»Heute ist Donnerstag, nicht wahr?«, erwiderte Lasch. »Immer montags und donnerstags sehe ich ihn.«
»Aha. Wo sehen Sie ihn denn?«
»Vor meinem Geschäft. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
Hinter Lasch traten Mayers und Tallwitz aus dem Geschäft heraus auf die belebte Straße.
»Sehen Sie das Gebäude dort drüben?« Lasch zeigte auf ein großes Schaufenster, direkt gegenüber von seinem
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