Sichelmond
dass unser Angreifer wiederkommen würde. Ich hatte mir überlegt, dass er mich vielleicht ebenfalls aus der Wohnung entführen wollte. Wieder habe ich versucht, gegen die Fesseln anzukommen, doch du hast ja selbst bemerkt, wie eng sie geknotet waren. Ich hatte keine Möglichkeit, sie zu lockern. Aber einfach auf der Erde zu liegen, mitten in dem Chaos der Wohnung, das war mir zu riskant. Der Täter hätte sich wieder jederzeit von hinten an mich heranschleichen können. Und deshalb hab ich mich durch den Raum gerobbt. Gefesselt wie ich war, kam ich zwar nur zentimeterweise vorwärts, doch schließlich gelang es mir, rückwärts die Wand zu erreichen und mich einigermaßen aufzusetzen. Dann erst, als ich mich umblickte, entdeckte ich dich.«
Rouven sah Tabitha aus weit geöffneten Augen an.
»Ich hatte geschrien vor Schreck. Ich dachte ja, ich sei allein in der Wohnung. Aber dann hast du dort gelegen. Mit deiner Wunde an der Schläfe, aus der dir das Blut in den Mund gelaufen war. Ich hatte eine Todesangst vor dir. Stell dir das mal vor: Da liegt ein Wildfremder auf dem Boden, nach einem Überfall auf meine Familie. Blutend. Ohnmächtig. Und hinter dir, auf unserer Wohnzimmertür, sah ich die Zeichen, eingebrannt in das Holz der Tür. Die Zeichen, die mir in die Haut geritzt worden waren. Das alles rief eine Panik in mir hervor. Und obwohl es mir fast unmöglich war, rieb ich meinen Arm so lange an meinem Körper, bis der Ärmel meiner Strickjacke die Skizze auf dem Arm bedeckte. Ich wollte auf keinen Fall, dass du dieses eingeritzte Bild siehst, wenn du wach wirst. Ich wusste ja nicht, ob du vielleicht der Täter warst. Oder ein Komplize. Oder …«
Nun war es Rouven, der zu Boden schaute. Die nächsten Worte fielen ihm überaus schwer. Sie kamen ihm beinahe nicht über dieLippen: »Du kannst dir noch immer nicht sicher sein«, gab er kaum hörbar von sich.
Doch Tabitha schüttelte energisch den Kopf. »Als du wach wurdest, hatte ich mich erst gefürchtet. Doch dann hab ich deinen Blick gesehen. Deine Verwirrung. Deine Hilflosigkeit. Und deine … Angst. Du hattest wohl ebensolche Angst wie ich. Und da war mir klar, dass du ebenfalls ein Opfer dieses Angriffs sein musstest. Und nicht der Täter.«
Rouven hob den Blick nicht. »Aber du kannst dir nicht sicher sein.«
»Ich habe dich jetzt kennengelernt«, versuchte Tabitha ihn aufzubauen. Und das, obwohl sie selbst jetzt Zuspruch gebraucht hätte. Doch sie spürte Rouvens tiefe Ratlosigkeit. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du …«
»Nein!« Rouven schrie und hieb mit der flachen Hand auf das Bett. Er sprang von seinem Platz auf, rannte zur Wand und schlug mit den Fäusten so gegen das Metall, dass es laut im ganzen Wasserwerk schallte. Der Gesang der Großmutter verstummte. Kurz. Dann nahm sie ihr Lied wieder auf.
Tabitha erhob sich ebenfalls von ihrem Platz und ging zu Rouven. Sie berührte ihn sacht an der Schulter: »Was ist mit dir?«
Er drehte sich nach ihr um. Nun war er es, dem in Strömen die Tränen über das Gesicht liefen. »Das ist mir nicht zum ersten Mal passiert«, sagte er, und Tabitha blickte ihn fragend an.
»Was meinst du?«
»Ich bin mittlerweile viermal in fremden Wohnungen erwacht. Immer war alles verwüstet. Immer waren die Besitzer der Wohnungen verschwunden. Und ich weiß nicht … Ich weiß nicht …«
Ihre Hand wanderte von der Schulter den Arm entlang. Sie ergriff seine Hand, um ihn zu ermutigen. »Ja?«
»Ich weiß nicht, was das alles mit mir zu tun hat. Ich verstehe diese gemalten Zeichen nicht. Ich weiß nicht, warum ich in den Wohnungen erwache. Ich weiß nicht …« Er drückte ihre Hand fester. »Ich weiß nicht, ob nicht … vielleicht ich …« Er schluckte hart.
»Ob du der Täter bist?«
Rouven zitterte am ganzen Körper. Dicke Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn. Tabitha hatte es ausgesprochen. »Ich habe Angst vor mir selbst«, gab er zur Antwort. »Was, wenn ich all diese Dinge getan habe? Was, wenn ich es war, der dich überfallen hat? Wenn ich deine Eltern mitgenommen habe? Und die anderen Familien? Was, wenn ich schlafwandle und im Schlaf kriminelle Dinge verübe? Was, wenn mich eine Kraft treibt, die … die …« Er wusste selbst, wie absurd das alles klang. Doch er befand sich auch in einer absurden Situation.
Tabitha zog ihn an der Hand zu sich heran. Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn zärtlich an sich. »Lass es uns herausfinden«, flüsterte sie ihm
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