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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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entspannten sich. Sein ganzer Körper schien plötzlich in eine Art Ruhezustand zu verfallen. Lediglich die Arme bewegten sich. Rouven ergriff die Hände des Spaniers, und plötzlich sprach er in einer Stimme auf den Mann ein, die Tabitha nicht von Rouven kannte. Es war eine feinere Stimme. Eine Mischung zwischen Flüstern und Hauchen, aber keinesfalls leise. Es war eine Stimme, die Tabitha tief in ihrem Inneren berührte. Die ihr guttat.
    Und scheinbar nicht nur ihr. Der Spanier, der gerade wie ein Wasserfall auf Rouven eingesprochen hatte, verstummte augenblicklich und lauschte Rouvens ungewöhnlicher Stimme. Alle Hektik fiel von dem Mann ab. Mit offenem Mund und offenen Ohren saß er Rouven gegenüber und nahm alles auf, was Rouven sprach.
    Doch nur er schien Rouven zu verstehen, denn Rouven redete in exakt der gleichen ungewöhnlichen Sprache auf den Mann ein, die zuvor er selbst gesprochen hatte. Bloß ohne alle Hektik. Hätte Tabitha ein Wort für Rouvens Stimme und seine Art zu sprechen finden müssen, so wäre ihr nur »friedlich« eingefallen. Rouven sprach so zu dem Mann, dass dieser in eine wunderbare Ruhe verfiel. Er, der vorhin noch hektisch und unruhig auf Rouven gewartet hatte, wurde von einer entspannten Stille ergriffen. Er lauschte. Lauschte auf Rouven und schien mit jedem Wort glücklicher zu werden. Bis schließlich Tränen der Rührung in seinen Augen zu sehen waren und Rouven seine Hände zurückzog.
    Tabitha erkannte, wie sich Rouvens Gesichtszüge normalisierten. Seine Augen erlangten allmählich ihre braune Farbe wieder. Er brauchte noch einen Moment, dann wandte er sich Tabitha zu und lächelte sie an.
    Tabitha starrte auf das Geschehen. Sie wusste nicht einzuordnen, was sie gerade beobachtet hatte. Und sie schien nicht die Einzige zu sein, die von der Situation gefesselt war. Alle um sie herum hatten sich Rouven und dem Mann zugewandt. Sie alle waren in ihrem Tun erstarrt. Fasziniert von dem, was dort vor sich ging.
    Schließlich erhob sich Rouven und trat auf Tabitha zu.
    »Was   … was war das?«, brachte sie beinahe tonlos hervor.
    Rouven sah sie überrascht an. »Was meinst du?«
    »Das.« Tabitha zeigte auf den Mann am Tisch, der mit einem beseelten Gesichtsausdruck vor sich hinschaute.
    Rouven lachte. »Ach das. Weißt du, niemand versteht das, was er sagt. Aber ich setze mich immer wieder vor ihn hin, wenn ich hier bin, und tu so, als höre ich ihm zu. Das scheint ihm gutzutun.«
    Tabitha verstand nicht. »Aber du hast doch mit ihm gesprochen.«
    »Nein, hab ich nicht. Ich verstehe ihn ja kaum. Wie sollte ich da mit ihm   …«
    Der verstörte Blick, mit dem Tabitha ihn nun ansah, ließ Rouven verstummen.
    Aber sie war nicht die Einzige, die ihn überrascht anschaute. Auch einige der Anwesenden hatten sich Rouven zugewandt und blickten ihn fragend oder irritiert an. Rouven bemerkte es nicht, doch Tabitha wusste diese Blicke nicht einzuschätzen. Wohl auch, weil alle nur zu Rouven blickten und niemand zu ihr.
    Sie zeigte mit dem Finger auf den Spanier. »Du hast doch gerade mit ihm gesprochen. Auf eine Art, wie ich noch nie jemanden habe sprechen hören.«
    Rouven dachte nach. »Was willst du mir sagen?«
    »Hast du das etwa nicht mitbekommen? Du hast   … Du   …« Sie wies in den Raum. »Alle hier haben mitbekommen, wie du mit dem Mann   …« Sie fand keine Worte. Konnte es wirklich sein, dass Rouven die Situation nicht bewusst war? »Du musst doch   …«
    Sie konnte ihren Gedanken nicht zu Ende bringen. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte sie, wie sich draußen vor dem Fenster etwas ereignete.
    Rouven fiel Tabithas Reaktion auf, und er richtete seine Konzentration ebenfalls auf das Schaufenster, doch im Gegensatz zu Tabitha wusste er die Situation sofort einzuschätzen, als er die roten Turnschuhe sah, die sich der Tafel näherten.
    Mit entschlossenen Schritten gingen Mayers und Tallwitz auf die Tafel zu. Mayers ärgerte sich über sich selbst. Gerade noch hatte er von der anderen Straßenseite beobachten können, wie Rouven so tief in ein Gespräch verwickelt gewesen war, dass er niemals registriert hätte, wenn sie in diesem Moment ihren Zugriff begonnen hätten. Doch anstatt zuzugreifen hatte Mayers über seine Beobachtung alles um sich herum vergessen. Es war wohl die Art, wie die beiden miteinander gesprochen hatten. Obwohl es kein eigentliches Miteinander war. Es schien mehr so, als spreche nur der Junge. Doch mit dem Mann, der ihm zugehört hatte, war etwas

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