Sichelmond
schüttelte bedauernd den Kopf, und Rouven wunderte sich, dass dieses Bedauern echt zu sein schien. »Wenn da jemand gewesen wäre …«, sagte Tallwitz, als Mayers ihn unterbrach.
»Beschreib uns doch mal dieses Mädchen«, wandte er sich an Rouven.
»Fast so groß wie ich«, antwortete Rouven, obwohl er nicht verstand, was das alles sollte. Er vermutete, dass es ein psychologischer Trick war. Eine Verhörmethode. Und er zwang sich zur Ruhe, um auf der Hut zu sein. »Blaue Augen, blonde Haare, zu einem Zopf gebunden. Sie trägt einen Ohrring, eine …«
»… eine geringelte Schlange, die sich über das ganze Ohrläppchen verbreitet?«
Rouven strahlte über das ganze Gesicht: »Ja! Endlich. Wissen Sie nun, von wem ich …«
Die Wucht von Mayers plötzlichem Angriff ließ Rouven entsetzt aufschreien. In rasender Geschwindigkeit kam er auf Rouven zugeschossen und packte den Jungen am Kragen.
»Willst du mich verarschen?«, schrie er Rouven ins Gesicht. »Macht dir das alles etwa Spaß?«
Tallwitz kam hinter dem Tisch herbeigestürzt, und nur mit Mühe gelang es ihm, Mayers von Rouven loszubekommen. »Hör auf! Was ist denn nur los mit dir?«
Rouven war dermaßen erschrocken, dass er auf seinem Stuhl nach hinten rückte. Weiter und weiter, bis er gegen die Wand stieß. Er hatte solche Angst vor dieser Unberechenbarkeit Mayers, dass er sich am liebsten durch die Wand hindurchgedrückt hätte, nur um diesem Mann zu entkommen.
»Sag mir endlich, was los ist!« Jetzt war es Tallwitz, der die Stimme hob, allerdings gegen seinen Kollegen. »Mensch, ich kenne dich ja nicht mehr wieder!«
Mayers gelang es kaum, sich zu beherrschen. Mit wütend funkelnden Augen starrte er auf Rouven, während er seinem Kollegen die Antwort gab: »Du verstehst das nicht? Er treibt ein perverses Spiel mit uns, dieser Bursche. Und das, während die Menschen, die er entführt hat, wahrscheinlich leiden und in Angst …«
Tallwitz versuchte erneut, Mayers zu verstehen: »Was ist das für ein Ohrring? Diese Schlange? Warum bringt dich das so auf die Palme?«
Endlich senkte Mayers seine bohrenden Blicke. »Das verstehst du nicht?«, fragte er, während es ihm nun doch gelang, sich wieder zu fangen. »Ich kann es dir erklären. Gib mir eine Minute.« Und damit wandte er sich zur Tür und trat aus dem Raum.
Tallwitz und Rouven blickten sich angespannt in die Augen.
»Weißt du, was er meint?«, fragte Tallwitz, doch Rouven schüttelte nur den Kopf. Was immer Mayers so aus der Fassung gebracht hatte, war keine Verhör-Variante. Mayers Überraschung und seine Wut waren echt. Bloß konnte sich Rouven nicht erklären, was hier vorging.
Es brauchte weniger als eine Minute, bis Mayers wieder den Raum betrat. In seiner Hand hielt er eine Akte.
Er baute sich vor Tallwitz auf. »Du willst also wissen, was er hier treibt?«
Tallwitz nickte. »Natürlich. Ich verstehe gar nicht …«
Mayers Hand wanderte in die Akte hinein und griff nach etwas darin. »Du hast es selbst gehört«, sprach Mayers auf Tallwitz ein, gerade so, als sei Rouven gar nicht mehr anwesend. »Beinahe seine Größe, blonde Haare, Zopf, Ohrring mit Schlange.«
»Ja, klar. Ich war ja im Raum, als …«
Mayers Arm bewegte sich. »Dann schau dir das mal an!« Er zog ein Foto aus der Akte und hielt es Tallwitz vor, der sofort kreidebleich wurde und sich vor Schreck die Hand vor den Mund hielt.
Dann drehte sich Mayers Rouven zu. Er nahm das Foto in die andere Hand und legte es auf den Tisch. »Sieh es dir an!«
Rouven traute sich nicht aufzustehen, daher rutschte er mit dem Stuhl von der Wand näher an den Tisch heran. Zu dem Foto. Und sein Herz tat einen Sprung. Er blickte auf Tabitha. Sie saß auf einem Baumstumpf mitten in einem Wald. Anscheinend war dieses Foto bei einer Wanderung aufgenommen worden. Sie lachte fröhlich in die Kamera. Ihren Kopf nach hinten geworfen, sodass der Zopf aufwippte und ihre Schlangen-Ohrringe deutlich zu erkennen waren.
Rouven mochte das Bild sofort. Er blickte zu Mayers auf. »Ja, das ist sie«, sagte er fast triumphierend. »Das ist Tabitha. Warum flippen Sie denn gleich so aus?«
Mayers blickte auf Rouven. Gerade so, als schaue er zum ersten Mal auf einen Menschen. Er hatte mit allen möglichen Reaktionen gerechnet, aber niemals mit dieser. »Weißt du … weißt du wirklich nicht, wer das ist?«, fragte er.
»Doch«, antwortete Rouven. »Das ist Tabitha. Das Mädchen, von dem ich Ihnen vorhin erzählt habe. Die
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