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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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zur Verzweiflung gebracht hatte.
    »Lass uns Feierabend machen«, brummte er plötzlich. »War ein langer Tag.«
    »Aber vorher lass uns noch einmal nach dem Jungen schauen, ja? Er sitzt zum ersten Mal ein und war wirklich durcheinander heute Mittag. Ich schlafe besser, wenn ich weiß, dass es ihm einigermaßen gut geht.«
    Mayers zog bereits seine Jacke von der Stuhllehne. »Einverstanden.«
    Hinter Tallwitz schaltete er das Licht aus und verließ das Büro.

A ls Rouven das Polizeigebäude erreichte, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Nicht nur wegen des langen Laufs vom Park hierher. Er war Tabitha entkommen. Da konnte er sicher sein.
    Nein, vor allem die Angst, das Gebäude zu betreten, verursachte eine wahre Panik in ihm. Er wusste noch immer nicht, wie er aus dem Gefängnis herausgekommen war. Er konnte nicht abschätzen, ob er Gewalt angewandt hatte oder eine List. Er fürchtete sich, das erblicken zu müssen, was er vielleicht angestellt hatte. Und dieses Gefühl war die hauptsächliche Ursache für sein schlagendes Herz: Er fühlte sich in seinem eigenen Körper als unberechenbarer Feind.
    Doch er musste hinein. Er wollte sich hinter Gittern wissen. Er brauchte den Schutz vor sich selbst. Das war sein Entschluss: wegschließen lassen, bevor er noch mehr Unheil anrichten konnte. Zu vielen Menschen hatte er schon Unglück bereitet.
    Er blickte auf das riesige Gebäude und überlegte, ob er einfach so hineinspazieren konnte. In manchen Fenstern brannte noch Licht, doch die meisten Räume waren verlassen. Er bemerkte, wie sich gerade an einem der Fenster im mittleren Stock eine Person zurückzog. Sekunden darauf wurde das Licht in diesem Raum gelöscht, und aus dem sich verengenden Lichtschein folgerte Rouven, dass gerade jemand die Tür zum Büro schloss.
    Er sah sich das Gebäude an und fragte sich, ob ihn aus dem Gebäude ebenfalls jemand beobachtete. Vielleicht erwarteten sie ihn schon. Vielleicht standen bereits Hundertschaften hinter der Tür, bereit, sich auf ihn zu werfen.
    Was sollte er tun? Einfach durch die Tür marschieren, zur Pfortegehen und etwas sagen wie: »Entschuldigen Sie, Sie haben vorhin etwas verloren: mich!«
    Aus einem Impuls heraus griff er in die hintere Tasche seiner Jeans. Seine Fingerkuppen erspürten dort etwas. Rouven zog es hervor und staunte. Es war eine Chipkarte. Auf der Vorderseite befand sich das Wappen der städtischen Polizei. Direkt daneben sah Rouven das Foto des Polizisten, der ihn in dieser Nacht bewacht hatte, und darunter war der Name abgedruckt: Pedro Bertoli.
    Rouven jagte ein Schauer über den Rücken. Nun wusste er, dass er unberechenbar war. Diese Chipkarte konnte er dem Polizisten nur mit Gewalt entwendet haben. Er fühlte sich in seinem Entschluss bestärkt: Er gehörte hinter Gitter. Zum Schutz der Menschen um ihn herum, aber auch zum Schutz vor sich selbst.
    Entschlossen trat er auf das Gebäude zu. Er ging die fünf Stufen zur Haupttreppe hinauf und sah dort, direkt neben dem Eingang, einen winzigen blinkenden Kasten, an dessen Seite sich ein Schlitz befand. Mehr aus Neugierde ging Rouven darauf zu und zog die Chipkarte hindurch. Ein Schnarren erklang, und die riesige Eingangstür öffnete sich. Schnell huschte Rouven hindurch.
    Der Polizist an der Pforte war augenscheinlich mit dem Verfassen eines Berichtes beschäftigt. Wie zum Gruß hob er die linke Hand, während er mit der rechten weiter die Seiten beschrieb. Er schaute nicht einmal auf. Warum auch? Schließlich war Rouven völlig unverdächtig, wie ein Kollege, hereingekommen. Der Mann an der Pforte hatte einfach nur auf die ihm vertrauten Geräusche des blinkenden Chip-Kastens und der sich öffnenden Tür reagiert.
    Die bewaffnete Hundertschaft, die Rouven befürchtet hatte, blieb aus. Nun begann Rouven sich wirklich zu wundern. Dies war niemals eine Polizeistation, aus der jemand wenige Stunden zuvor mit Gewalt geflüchtet war.
    Rouven wusste instinktiv, welchen Weg er nehmen musste. Doch er konnte sich nicht erklären, woher er den Weg kannte. Es war beinahe, als führten ihn seine Füße selbstständig die Treppe hinauf, einen der Gänge entlang und noch einmal eine Treppe hinauf. Rouven konnte sich nicht erinnern, diesen Weg jemals schon einmal gegangen zu sein, doch er war sich absolut sicher, das Richtige zu tun.
    Und tatsächlich, als er um eine weitere Ecke bog, erkannte er den Vorraum zu seiner Zelle. Das Büro der wachhabenden Beamten, von dem aus zahlreiche Gänge zu weiteren Zellen

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