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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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führten.
    Rouven erkannte auch den Polizisten wieder, der aus Italien stammte und von dem Rouven nun wusste, dass er Pedro Bertoli hieß. Der Beamte saß am Schreibtisch, über eine Akte gebeugt, und wirkte sehr verstört. Doch seine Verwirrung wurde verstärkt, als er Rouven den Raum betreten sah.
    »Was? Du kommst zurück?«, fragte er in seinem italienischen Akzent. »Gerade bin ich dabei   …« Er legte die Akte, über der er gesessen hatte, zur Seite, erhob sich und trat auf Rouven zu, als sehe er einen Geist.
    »Guten Abend«, grüßte Rouven und fügte schnell ein »Entschuldigung« hinzu.
    Der Polizist traute noch immer seinen Augen nicht. Wie in Trance kam er auf Rouven zu. Er packte ihn am Arm und zog ihn in Richtung Zelle. Jedoch ohne jede Form von Gewalt. Vorsichtig führte er Rouven am Arm durch den Gang, beinahe freundschaftlich.
    Rouven ließ es mit sich geschehen. Endlich konnte er die Verantwortung für sich selbst abgeben. Hier konnte er seine Angst vielleicht ablegen. Er ließ sich von dem Beamten in die Zelle führen und atmete erleichtert ein, als sich die Zellentür hinter ihm schloss.
    Bertoli sah ihn noch immer entgeistert an. Rouven machte ein entschuldigendes Gesicht. Dann fiel ihm ein: »Oh, ich habe noch etwas für Sie.« Er zog Bertolis Ausweis hervor und hielt ihn dem Beamten entgegen.
    Der Polizist blickte auf den Ausweis, dann auf Rouven, dann auf den Ausweis. »Du musst wissen, ich versuche schon die ganze Zeit zu verstehen, was hier geschehen ist«, sagte er. »Ich   …«
    In diesem Moment wurde Bertoli unterbrochen. Die Tür zu seinem Vorraum wurde aufgestoßen, und Mayers und Tallwitz traten ein.
    »Ich sehe, du bist noch wach«, begrüßte Tallwitz Rouven.
    Mayers wandte sich an Bertoli: »Benimmt er sich auch ordentlich?«
    Der Italiener nickte: »Besser als Sie glauben mögen.«
    »Das ist gut«, gab Mayers zurück, ohne der zweideutigen Antwort Bertolis Beachtung zu schenken. Er konzentrierte sich auf Rouven: »Wie geht es dir?«
    »Besser«, war Rouvens Antwort. Und das war auch nicht gelogen.
    Mayers und Tallwitz nickten erleichtert. »Schön«, antwortete Tallwitz. »Wir sehen uns dann morgen.«
    Gemeinsam verließen sie den Raum und ließen den verblüfften Bertoli mit Rouven allein.

D ie Zeit zerfloss in Rouvens Zeitgefühl zu einem einzigen Brei. Nicht nur die beiden Wochen, die er hier schon verbrachte. Auch nicht die Tage, nein: Selbst die Stunden begannen, sich zu gleichen. Die meiste Zeit verbrachte er damit, in seiner Untersuchungszelle vor sich hin zu grübeln, um endlich alles, was geschehen war, verstehen zu können. Doch es tauchten nur Bilder und Fragmente auf. Nichts von alledem schien zusammenzupassen. Stunden um Stunden brachte Rouven damit zu, das, was geschehen war, in einen Zusammenhang zu bringen. Doch er kam sich vor, als versuche er ein Mosaik zu legen, bei dem die Hälfte aller Teile zu einem ganz anderen Bild gehörte.
    Einmal am Tag wurde er unterbrochen. Meistens nachmittags. Immer dann, wenn einer der Beamten ihn aus der Zelle abholte, um ihn in den Verhörraum zu bringen, wo Mayers und Tallwitz ihn bereits erwarteten. Natürlich versuchten sie weiterhin, mehr aus ihm herauszubringen. Auch sie waren Suchende in dem ganzen Spiel. Wie Rouven brachten sie ihre ganze Zeit dafür auf, die einzelnen Teile, die ihnen als Fakten vorlagen, zu einem Ganzen zusammenzufügen. Doch ebenso wie Rouven scheiterte jeder ihrer Versuche.
    Tallwitz war der Geduldigere der beiden. Er hatte keine Probleme, Rouven immer und immer die gleichen Fragen zu stellen. Wenn es sein musste, ganze Nachmittage lang.
    Mayers hingegen war unberechenbar. Manchmal versuchte er es auf die freundliche Tour, manchmal schrie er Rouven an, warf Stühle durch den Raum und wurde beinahe aggressiv.
    Er tat Rouven leid. Der Junge verstand den Druck, unter demMayers stand. Ebenso wie Tallwitz, der seine Gefühle bloß besser beherrschen konnte. Doch auch Rouven stand unter Druck. Auch ihm war daran gelegen, dass die vermissten Menschen gefunden wurden. Auch er bangte um deren Leben.
    Doch er hatte nicht die geringste Ahnung, nicht den kleinsten Funken an Vermutung, wo sich diese Menschen befanden und ob es ihnen gut ging.
    Und das sagte er Mayers.
    Manchmal.
    Meistens jedoch schwieg Rouven. Er hatte ihnen nichts zu sagen, weil er nichts wusste. Doch genau das hatte er ihnen bereits gesagt. Warum also noch Worte machen?
    Doch es war genau dieses Schweigen, das Mayers so an die Nerven ging.

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