Sichelmond
nicht mehr, ob Mayers ihm wirklich von dem Unfall erzählt hatte. Mit einem Mal zweifelte Rouven wieder an seinem Verstand. Er wusste ja nicht einmal, wie er hierhergekommen war oder was in den Neumondnächten mit ihm vorging. Wie konnte er da sicher sein, dass Mayers ihm irgendetwas gesagt haben sollte? Wahrscheinlich litt er unter Wahnvorstellungen. Und nun war er dabei, Tabitha mit seinen wirren Gedanken zu belasten. Dabei hatte sie wahrlich genug durchstehen müssen in der letzten Zeit.
Er tat einen Schritt nach hinten. »Es tut mir leid«, sagte er und tat einen weiteren Schritt. »Es … es tut mir leid.«
Tabitha stieß sich von dem Tisch ab. Schnell fand sie ihre Fassung wieder, als sie sah, dass mit Rouven etwas vonstattenging. »Was hast du vor?«, fragte sie ihn.
»Ich werde das einzig Richtige machen«, gab er zur Antwort und trat weiter auf den Gang zu, der aus dem Wasserwerk nach draußen führte.
»Bleib hier«, bat sie ihn. »Lass uns reden.«
»Es wurde schon zu viel geredet«, antwortete Rouven und tat einen weiteren Schritt. »Es wird Zeit, dass ich etwas unternehme.«
»Aber was?«, hakte sie erneut nach.
Rouven sah ihr entschlossen in die Augen. Er hätte alles dafür gegeben, sie noch einmal zu berühren. Sie noch einmal in die Arme zu schließen. Doch es war zu spät. Er musste handeln.
Jetzt.
»Es tut mir leid«, sagte er abschließend, bevor er aus der Halle in den Gang rannte.
»Warte!«, hörte er Tabitha noch rufen. Er hörte auch ihre Schritte. Sie folgte ihm. »Rouven.«
Er beschleunigte seinen Lauf. Er rannte. Hechtete. Aus dem Werk heraus, durch den Park. Die Straßen nutzte er wie einen Irrgarten, bog mal nach rechts ab, mal nach links, dann wieder rechts, um Tabitha abzuschütteln. Sie sollte ihn nicht an seinem Entschluss hindern. Es gab nur noch eines zu tun für Rouven. Nur noch eines. Und das wollte er durchziehen.
M ayers stand am Fenster seines Büros und blickte zu der Mondsichel hinauf, die nur noch wenige Tage brauchen würde, um sich zu einem Halbmond zu entwickeln. Wieder einmal Nachtschicht, dachte er. Seine Wohnung könnte er allmählich weitervermieten, so selten wie er dort war. Doch er war augenscheinlich nicht der Einzige, der sich die Nacht um die Ohren schlug. Hinter ihm wusste er Tallwitz am Schreibtisch sitzen. Und unten auf der Straße, direkt gegenüber dem Haupteingang des Polizeigebäudes, entdeckte Mayers eine weitere Person, die bewegungslos im Halbdunkel stand. Sicher noch jemand, dem man seine Ruhe in der Nacht nicht gönnt, überlegte Mayers.
Tallwitz’ Stimme zog ihn aus seinen Grübeleien heraus: »Und wenn er doch recht hat, der Junge?«
Mayers drehte sich vom Fenster ab. »Du glaubst ihm?«
»Ich weiß es nicht. Er macht auf mich einen glaubwürdigen Eindruck.«
»Weil du ihn magst«, gab Mayers schroff zur Antwort. »Alte Bauernregel: Nur böse Menschen sind böse.«
Tallwitz winkte ab. »Du weißt genau, dass ich nicht so denke. Wir haben schon die scheinbar nettesten Leute hinter Gitter gebracht. Aber dieses Mal ist das anders. Seine Verwirrung ist nicht gespielt. Sein Zusammenbruch heute Mittag beim Betrachten des Fotos …«
Mayers nickte. »Ich fand seine Reaktion richtig gruselig. Hast du gesehen, wie er die Augen aufgerissen hat? Und wie er alle Farbe aus dem Gesicht verlor? Mit ihm geht irgendetwas vor sich, doch ich weiß verdammt noch mal nicht, was.«
»Denk doch mal an die Situation bei der Festnahme. Unser Mann beschwört, dass der Junge sich heiß angefühlt hatte. Brennend heiß. Und ich hatte den gleichen Eindruck, als ich ihn im Griff hatte.«
»Drogen scheiden aus«, gab Mayers zu bedenken. »Wir haben ihn getestet. Mit dem Mist hat er nichts zu tun. Zum Glück.«
Tallwitz warf die Arme in die Höhe. »Das Ganze wird immer verworrener.«
»Dass er in diesen Fall verwickelt ist, liegt aber auf der Hand. Wir haben sein Foto von einer der Tatort-Kameras. Es ist sein Blut, das wir in jeder verwüsteten Wohnung gefunden haben. Und auch seine Fingerabdrücke wurden überall dort gefunden. Das Labor ist sich sicher.«
Mayers brummte. Nachdenklich zog er ein Tuch hervor und bückte sich nach seinen Füßen. Mit geübten Griffen wischte er über den Lack seiner roten Turnschuhe. Für einen Polizisten war es unsinnig, solch auffällige Schuhe zu tragen. Vielleicht sogar gefährlich. Das wusste er. Dennoch: Er mochte diese Marotte an sich selbst. Schon als Kind hatte er nur rote Schuhe getragen, was seine Mutter
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