Sichelmond
ihr auch kein Trost, dass Anne König selbst sich für Rouven einsetzte und ihrer Kollegin widersprach.
Die Reaktionen der Menschen hatten Tabitha Angst gemacht.
Ebenso wie die Tatsache, dass scheinbar niemand sie wahrgenommen hatte. Keiner hatte sie angesprochen. Nicht mal nach ihr gesehen.
Tabitha war sich überflüssig vorgekommen. Und falsch behandelt.
Und nun rannte sie. Wohin, war ihr im ersten Moment egal. Dann plötzlich wusste sie, wohin sie sollte: nach Hause.
R ouven fand sich auf der Straße wieder. Erschrocken blickte er sich um. Wie war er hierher geraten? Das Einzige, woran er sich erinnern konnte, war der Moment, in dem er in seiner Zelle beschlossen hatte, den Fragen nachzugehen, die ihn beschäftigten. Er wollte Tabitha aufsuchen. Mit dem Polizisten sprechen, der vor seiner Zelle postiert gewesen war.
Doch wie er hierhergelangt war, daran konnte sich Rouven nicht mehr erinnern.
Und es war ihm auch gleich.
Er war draußen. Darauf kam es an.
Ohne sich umzublicken, rannte er los. Durch die Straßen der Stadt, in den Park hinein, bis zum stillgelegten Wasserwerk. Erst an der riesigen Stahltür blieb er stehen und verschnaufte. Eigentlich hatte er mit Polizisten gerechnet. Oder mit Absperrbändern vor dem Eingang. Anscheinend hatten sie noch nicht in Erfahrung bringen können, wo er lebte.
Sachte öffnete er die riesige Tür. Das vertraute Knarren der Scharniere war wie ein Willkommensgruß für ihn, und er trat ein. Der inzwischen heimische Geruch des feuchten Metalls gemischt mit dem Duft des nassen Lehmbodens drang ihm in die Nase. Am Ende des Ganges erkannte er auch schon das Licht, und wie aus weiter Ferne drang Nanas Gesang zu ihm.
Zu Hause.
Er trat in die Halle. »Großmutter. Nana, ich bin …«
Rouven verstummte.
Er hatte darauf gehofft. Doch er hatte nicht damit gerechnet. Undnun wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Sanft flüsterte er ihren Namen: »Tabitha.«
Ihr liefen Tränen über das Gesicht, als sie ihn diesen Namen aussprechen hörte. Sie sprang auf, rannte zu ihm und fiel ihm um den Hals. »Rouven. Du bist hier!«
Rouven schloss die Augen. Er fühlte Tabitha. Sie war hier. In seinen Armen. Und sie fühlte sich wirklich an. Real. Existent. Sie war hier. Und auf einmal hatte das Leben wieder eine Richtung. Auf einmal ergab alles wieder einen Sinn. Sie war hier. Er würde sie nicht mehr gehen lassen.
»Wie konntest du aus dem Gefängnis entkommen? Haben sie dich gehen lassen? Haben sie eingesehen, dass du unschuldig bist?«
Ganz im Gegenteil, dachte Rouven nur, doch er sagte nichts.
»Bernie«, erklang es plötzlich, und Rouven lächelte über das ganze Gesicht. Er löste sich aus Tabithas Umarmung und ging auf Nana zu. »Großmutter.« Auch sie drückte er fest an sich. Sie genoss die Umarmung, dann aber knuffte sie ihn in die Brust.
»Das ist typisch für dich, Bernie«, schimpfte sie. »Kommst zu spät. Und lässt dieses Mädchen hier warten.«
Rouven trafen ihre Worte wie ein Schlag. »Du siehst sie auch, oder?«
Nana machte ein Gesicht, wie Rouven es bisher noch nie an ihr gesehen hatte. »Hast du den Verstand verloren?«, fragte sie aufgebracht. »Natürlich sehe ich sie. Sie steht doch direkt hinter dir. Und du lässt sie hier warten. So ein hübsches Mädchen. Sie ist viel zu nett für dich, du alter Taugenichts.« Sie schüttelte den Kopf. »Da verabredest du dich mit so einem netten Mädchen, und dann kommst du zu spät! Ihr seid doch verabredet, oder nicht?
»Doch, Nana. Wir sind verabredet«, gab er zur Antwort. Und in Tabithas Richtung ergänzte er: »Ich wusste nur nicht, dass wir uns hier treffen.«
»Also wirklich!«, erdreistete sich die Frau. »Du musst deine Gedanken mehr beisammenhalten. Was bist du denn so vergesslich? Dasist nicht gut. Das ist gar nicht gut.« Sie wandte sich von ihm ab. »Vergessliche Leute machen manchmal die verrücktesten Dinge.« Unaufhörlich vor sich hin murmelnd verzog sie sich in ihre Ecke.
Rouven wandte sich Tabitha zu, und sofort wiederholte sie ihre Frage: »Wie bist du aus dem Gefängnis gekommen?«
Seine Antwort war ein ratloses Gesicht. »Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß nur, wie ich hinter Gittern stand und ein Gespräch mit dem wachhabenden Polizisten begann. Und dann hab ich mich draußen gefunden, auf der Straße.«
Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. »Du weißt nicht, wie du dort hingekommen bist?«
Erst jetzt wurde ihm diese Tatsache richtig bewusst, und er zuckte zusammen. »Nein. Und
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