Sichelmond
ehrlich gesagt habe ich auch Angst, es zu erfahren. Was, wenn ich wieder jemandem Gewalt angetan habe? Was, wenn jetzt das Polizeipräsidium verwüstet ist? Bin ich vielleicht ausgerastet? So wie in den drei vergangenen Neumondnächten?«
Sie berührte seine Hand. »Das glaube ich nicht. Du bist kein Gewalttäter.«
»Was macht dich so sicher? Du kennst mich doch nicht.«
»Ich glaube, ich kenne dich besser, als du es mir zutraust. Ich sehe, wie du mit Nana umgehst. Wie du ihr ein Zuhause bietest, wo du selbst doch keines hast. Ich habe gesehen, wie du mit dem Obdachlosen in der Tafel gesprochen hast. Du hast sein Gesicht zum Leuchten gebracht. Du hast ihn vor Glück regelrecht strahlen lassen.« Sie trat dicht an ihn heran. »Rouven, ich glaube, du hast eine besondere Gabe in dir. Etwas, das Menschen glücklich werden lässt. Du bist in deinem Inneren ein sanfterer Mensch als irgendjemand sonst, den ich kenne.«
Er winkte ab. »Und wenn es in mir zwei Seiten gibt? Was, wenn ich bei Tag der nette Rouven bin und nachts – gerade in Neumondnächten – der aggressive? Schon mal was von Dr. Jekyll und Mr. Hyde gehört?«
Sie dachte über seine Worte nach. Und dieses kurze Zögern vorihrer Antwort jagte ihm nun mehr Angst ein als alles, was bisher geschehen war. In dieser Sekunde spürte er, wie wichtig Tabitha ihm bereits war. Und wie wichtig, dass er ihr Vertrauen nicht verlor. Deshalb änderte er schnell das Thema. So rasch, dass sie nicht zu einer Antwort genötigt war: »Wieso bist du hier?«
»Nachdem sie dich abgeführt hatten, wusste ich nicht, wohin. Also bin ich nach Hause gegangen.«
»Nach Hause?«
Sie ließ ihren Blick durch die riesige Halle schweifen, über die riesigen Wasserrohre, die Ventile und die handgroßen Metallbolzen an den rostigen Wänden. Aber auch über Nanas Teppiche, über den Tisch und die Stühle, die wie verloren in dem gigantischen Raum standen, und schließlich ruhte ihr Blick auf Rouvens Ecke. »Das hier ist mir im Moment mehr Zuhause als irgendein anderer Ort auf der Welt«, gab sie zur Antwort. »Ich hoffe, ich bin willkommen.«
Als Antwort streckte Rouven beide Arme nach ihr aus und zog sie noch einmal an sich heran. »Jederzeit«, hauchte er ihr ins Ohr, und sie gab leise zurück: »Danke.«
Eine ganze Weile hielten sie sich eng umschlungen, mit geschlossenen Augen. Gerade so, als könnten sie dadurch die Welt um sie herum und alle Fragen und Probleme ausschließen.
Es war Rouven, der sich als Erster aus der Umarmung löste. »Wir haben über dich gesprochen«, sagte er. »Die Polizisten und ich.«
»Ich hoffe, du hast nur Gutes von mir erzählt«, ulkte sie, doch an seinem Gesichtsausdruck las sie ab, dass ihm jetzt nicht nach Scherzen war.
»Sie haben mir von deinem Unfall erzählt.«
»Unfall?«
»Vor sieben Jahren.«
Sie dachte nach. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Der eine Polizist sagte, es habe vor sieben Jahren einen schweren Unfall gegeben.«
»Was hat das mit mir zu tun?«
Rouven suchte fieberhaft nach Worten. »Er meinte, du seist damals … Er glaubt, dass du … nun …«
Sie spürte seine Unsicherheit und hakte nach: »Was ist los? Was meinst du? Rouven, du machst mir Angst. Was willst du mir sagen? Was hat dieser Polizist dir angedeutet?«
»Er sprach von einem Unfall. Was genau geschehen ist, weiß ich nicht. Und das ist jetzt auch nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass … du …«
»Ja?«
»… seit sieben Jahren als verschwunden giltst.«
»Was?«
Rouven begann zu zittern. »Er sagte sogar, … nun, du sollst … du … bist gestorben. Bei diesem Unfall. Vor sieben Jahren und …«
Tabitha begann zu zittern. »Gestorben? Ich?« Sie trat ein paar Schritte zurück und suchte Halt an dem Tisch. »Ich soll gestorben sein? Rouven, sieh mich an. Sehe ich aus wie eine Tote?«
Rouven hob beschwichtigend die Hände, doch er spürte schon, dass ihm die Situation entglitt. »Das habe ich nicht gesagt. Es waren seine Worte. Und ich möchte von dir nur wissen …«
»Ob du eine Leiche im Arm gehalten hast?« Ihre Stimme hob sich. »Ob du eine Tote zu Gast hast?«
»Entschuldige …«, brachte Rouven hervor, doch Tabitha schüttelte den Kopf.
»Was soll ich entschuldigen? Weißt du überhaupt, was du da redest?«
Die Heftigkeit ihrer Reaktion schmerzte Rouven. Er bereute zutiefst, sie darauf angesprochen zu haben. Und sie hatte recht: Es klang völlig verrückt, was er sagte. Auf einmal wusste er
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