Sichelmond
»Woher wusstest du nur all diese Dinge?«, fragte er stattdessen. »Alles, was du mir gesagt hast. Über meine Familie. Meine Gefühle. Mein Heimweh. Wie konntest du das alles wissen?«
Wieder verweigerte Rouven die Antwort. Und wieder fiel es Bertoli nicht auf. Rouven verstand: Der Mann war nicht hier, um etwas zu hören. Er wollte sprechen. Also schob sich Rouven ein drittes Schokoladenstück in den Mund und hörte zu.
»Ich stamme aus Italien, wie du weißt. Und wie man auch hört, wenn ich spreche. Ich bin Italiener. Aber schon als Kind kam ich nachDeutschland. Weißt du, ich bin hier zur Schule gegangen, habe mein Abitur hier gemacht und schließlich diesen Beruf erlernt. Dennoch: Verliebt habe ich mich in Italien. Bei einem Sommerurlaub. Giulia kommt aus dem Ort, in dem ich geboren bin. Dort habe ich sie auch getroffen und mich in sie verliebt. Sie kam mit mir hierher, nach Deutschland, und wir waren wirklich glücklich in all den Jahren.«
Rouven biss in das vierte Stück Schokolade und wunderte sich nur, warum der Mann ihm seine ganze Lebensgeschichte erzählte.
»Wir haben drei Kinder. Du kennst ja anscheinend ihre Namen. Du hast sie ja mehrfach erwähnt an diesem ersten Abend hier. Wir haben ein Leben geführt, von dem man in warmen Sommernächten träumt, wenn man auf einer Wiese liegt und seine Gedanken schweifen lässt.« Bertoli schaute verklärt durch das Zellenfenster hinter Rouven. Dann allerdings verfinsterte sich sein Blick. »Das Unglück begann vor drei Jahren. Wir erhielten einen Anruf. Von Giulias Familie. Aus Italien. Ihr Vater läge im Sterben. Sie solle sofort zu ihm kommen. Und das tat sie auch. Doch der Vater lag nicht im Sterben. Er leidet an einer unheilbaren Krankheit. Giulia ist noch immer bei ihm und pflegt ihn. Die Kinder hat sie zu sich genommen. Sie gehen dort in die Schule. Wir telefonieren beinahe jeden Tag miteinander. Doch wir sehen uns kaum noch. Ich spare seit drei Jahren meinen ganzen Urlaub auf, um in der Sommerzeit zu meiner Familie zu fliegen. Sie fehlen mir. Giulia. Die Kinder.«
Nun blickte er Rouven fest in die Augen. »Und dann kamst du in dieser Nacht und hast mich angesprochen. In meiner Muttersprache. Über all das hast du geredet. Und noch mehr. Du hast Worte für meine Sehnsucht gefunden, die ich nicht einmal kannte. Du hast vor meinen Augen Bilder entstehen lassen. Rouven, glaub mir: Ich habe mich in all den Jahren niemals meiner Familie so nahe gefühlt wie an diesem Abend. Es war, als wären sie hier. Bei mir. Immer schon. Als seien sie nie fort gewesen. Das alles war so intensiv. So lebendig. So …« Tränen der Rührung stiegen dem Mann in die Augen. »Seither geht es mir besser. Ich fühle mich meiner Familie mehr verbunden als je zuvor. Junge, ich weiß nicht, wie du das geschafft hast. Ich weiß nicht, woher du das alles weißt, was du gesagt hast. Doch ich bin gekommen, um dir zu danken.«
Er zog lautstark die Nase hoch. »Erinnerst du dich auch an den Moment, als du wieder zurückkamst? Ich dachte, mich tritt ein Pferd, als du wieder in der Tür gestanden hast. Dass du die Situation ausgenutzt hast und mir meine Chipkarte gestohlen hast, als ich so in meinen Gefühlen verfangen war, dass ich es nicht bemerkte, das war mir in diesem Moment egal. Doch als du zurückgekommen bist, da hatte ich doch an dem Tisch gesessen und etwas geschrieben. Erinnerst du dich? Wahrscheinlich hast du gedacht, ich schreibe einen Bericht. Über deine Flucht oder so. Doch ganz im Gegenteil. An diesem Abend war es mir egal, dass du geflohen bist. Ich wollte nur einen Brief schreiben. An Giulia. Ich wollte diesen Moment voller Gefühle, den du mir bereitet hast, mit ihr teilen. Ich schrieb ihr drei ganze Seiten. Den innigsten, zärtlichsten Brief, den ich überhaupt jemals geschrieben habe. Noch in derselben Nacht habe ich ihn eingeworfen, und wenige Tage später hat sie angerufen. Sie hat geweint. Vor Rührung. Ich habe sie tief bewegt mit meinem Brief. Und sie habe keine Angst vor der Zukunft, hat sie gesagt. Wir werden diese Trennung auf Zeit schon schaffen. Und dann wieder zusammenziehen. Und mein Brief hat ihr so viel Kraft gegeben, dass sie nicht daran zweifelt, dass uns das gelingt.«
Rouven stand mit offenem Mund vor dem Polizisten. Die Schokolade war ihm längst aus den Händen gefallen. Er hörte, was Bertoli ihm sagte, doch er verstand dennoch kein Wort. Das alles sollte er zustande gebracht haben? Er?
»Kannst du mir sagen, was an diesem Abend geschehen
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