Sichelmond
Dann wütete er herum. Schrie. Brüllte. Schlug gegen die Wand.
Und Rouven empfand in solchen Momenten nur Mitleid.
Diese endlosen Verhöre überstand Rouven nur, indem er die Realität ausblendete. Wenn er Mayers und Tallwitz gegenübersaß, dachte er schon an seine Zelle. An die Stunden, in denen er wieder allein sein konnte. Mit seinen Gedanken. Und mit seiner Erinnerung.
Denn bei allem, was geschehen war, das konnte ihm niemand nehmen: seine Erinnerung. Er war jetzt ein Mensch, der sich erinnerte. An Tabitha. An Nana. An das stillgelegte Wasserwerk. Es gelang ihm, Bilder von ihnen vor seinem geistigen Auge entstehen zu lassen. Tabithas strahlendes Gesicht, wenn sie lachte. Nana, wie sie am Herd stand und ihre Kartoffelgerichte kochte.
Diese Momente der Erinnerung waren der größte Trost für Rouven. Doch es waren eben nur Momente. Stets hatte er nur wenige Minuten, in denen er seine Erinnerungen genießen konnte, denn kaum hatte er sich an Tabitha und Nana erinnert, da legte sich der dunkle Schatten der Angst über Rouven. Dann wurde er sich seiner ausweglosen Situation bewusst, und die alten Fragen, Ängste und Zweifel kamen in ihm auf.
In diesen Augenblicken setzte Rouven sich auf die Kante seinesZellenbettes, stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte den Kopf auf seine Fäuste. In dieser Haltung verharrte er schließlich stundenlang und stellte sich die immer gleichen Fragen. Ähnlich wie Tallwitz es tat. In der gleichen Ruhe. Und beinahe die gleichen Fragen.
Es gab Abende in dieser Zelle, da spürte Rouven nicht einmal mehr den Übergang von seinem wachen Zustand in den Schlaf. Wenn er am nächsten Morgen erwachte, konnte er meist nicht einschätzen, wie lange er seinen Gedanken noch nachgehangen hatte.
An einem solchen Abend erhielt Rouven Besuch. Wieder saß er mit aufgestütztem Kopf auf seiner Pritsche in der Zelle und war tief in seinen Grübeleien verfangen, als er Schritte hörte. Erst nahm er sie gar nicht wahr, doch dann wurde ihm bewusst, dass sich jemand seiner Zelle näherte.
Rouven brauchte einen Moment, um aus seinen Gedanken aufzutauchen, dann erst drehte er den Kopf und sah nach. Pedro Bertoli, der an diesem Abend wieder Dienst hatte, stellte sich an die Gitter der Zellentür.
»Guten Abend, Rouven«, sagte er freundlich, was keine Besonderheit war. Alle Beamten hier behandelten Rouven stets respektvoll, ja beinahe herzlich. Rouven spürte, dass er gemocht wurde, trotz der grausamen Taten, die man ihm anlastete. Und er wunderte sich. Er hätte vermutet, dass in einem Gefängnis ein ganz anderer Ton herrschte.
»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Bertoli mit echtem Interesse.
Rouven bemerkte, dass er sich nur mit einer Hand gegen die Zellen stützte. Die andere hielt der Polizist hinter dem Rücken versteckt.
»Ihnen auch einen guten Abend«, grüßte Rouven zurück, ohne den Blick von dem Arm zu wenden, den Bertoli zur Hälfte hinter sich verbarg.
Der Polizist folgte Rouvens Blick und lächelte. »Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte er geheimnisvoll. »Ich hoffe, du magst so etwas.« Er zog die Hand hervor und hielt Rouven eine frische Tafel Schokolade in die Zelle. »Eigentlich ist es verboten, aber …«
Rouven erhob sich. In seinem Mund lief bereits das Wasser zusammen. Schokolade. Wann hatte er das letzte Stück gegessen?
»Danke!« Er griff begeistert danach, riss das Papier auf, in dem die Süßigkeit verpackt war, brach sich eine Rippe ab und hielt dann die Tafel dem Polizisten hin.
Der lachte. »Oh, danke. Das ist nett.« Und er nahm sich ebenfalls eine Rippe davon.
»Ich muss dich etwas fragen, Rouven«, sagte er schließlich mit vollem Mund, doch in einem Ton, aus dem Rouven schließen konnte, dass er nun den eigentlichen Grund von Bertolis Besuch erfahren würde.
Hastig schluckte der Beamte sein Schokoladenstück herunter. Er blickte sich um, ob sich außer ihnen auch wirklich niemand im Raum befand, bevor er endlich seine Frage stellte: »Erinnerst du dich an die erste Nacht, in der du hierherkamst, Rouven?«
Der Junge nickte. Und brach sich schnell eine zweite Rippe der Schokolade ab.
»Und weißt du auch noch, was du zu mir gesagt hast, an diesem Abend? Erinnerst du dich an deine Worte?«
Rouven verzichtete erst einmal auf eine Antwort. Er wollte verbergen, dass er selbst nicht wusste, was in dieser Nacht geschehen war. Noch immer hatte er keine Ahnung, wie ihm die Flucht damals gelungen war.
Bertoli wartete Rouvens Antwort auch nicht ab.
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