Sichelmond
entgegnete Tabitha. »Wie viele Menschen rund um den Globus sind wohl in der Lage, überhaupt nur ein einziges Wort von dieser …«
Rouven schrie auf. Er war völlig aus der Fassung geraten. Geschockt blickte er auf das Buch, bei dem er gerade eine Seite weiter geblättert hatte.
Tabitha erschrak zutiefst, doch sie verstand sofort Rouvens Entrüstung, als sie auf das Blatt schaute. Hier gab es keine Schriftzeichen. Nur ein Bild. Ebenfalls mit schwarzer Tinte auf das Papier gezeichnet. Es zeigte zwei Personen im Kampf miteinander. Sie schienen über Wolken zu schweben, dicht unter einem Sternenhimmel, auf dem ein Sichelmond zu sehen war. Ihre Hände waren im Gefecht ineinander verkeilt. Sie warfen sich rasende Blicke zu. Einer der beiden hatte einen stierähnlichen Kopf, mit langen, spitzen Hörnern daran. Die Füße dieses Wesens glichen Stierhufen. Flammen züngelten daraus empor und schlängelten sich das Bein hinauf. In ihrem ganzen Leben hatte Tabitha noch nie etwas vergleichbar Furchterregendes gesehen.
Das andere Wesen war weit weniger angsteinflößend, wenn auch seine Gestalt spektakulär war. Zwar befanden sich an seinem Rücken riesige Flügel, wie die eines Vogels, und seine Füße waren wie Vogelkrallen gezeichnet, doch ansonsten wirkte die Figur auffallend sanftmütig, obwohl sie doch in einen Kampf verstrickt war. Das Gesicht war gütig gezeichnet, ja beinahe blickte das Wesen seinem stierartigen Gegenüber freundschaftlich in die Augen.
Doch es war vor allem eine Besonderheit, die Rouven so aus der Fassung gebracht hatte. Ein Element dieses uralten Bildes jagte ihm und Tabitha Angst ein: Auf der Schulter des zweiten Wesens befand sich ein Symbol. Es wirkte, als sei es tief in die Haut des Wesens eingebrannt, gerade so wie ein Brandzeichen: ein sichelförmiger Mond, mit einer Vogelkralle darunter.
I hnen ist schon klar, wie verrückt das klingt, oder?« Mayers rutschte auf seinem Stuhl vor den Bildschirmen des Sicherheitsraumes hin und her.
Bertoli nickte. »Wenn mir jemand eine solche Geschichte erzählen würde, dann würde ich ihn für völlig bekloppt erklären.«
Treffende Beschreibung für das, was in mir vorgeht, dachte Mayers nur, und ein Blick zu Tallwitz verriet ihm, dass sein Kollege wohl ebenso dachte.
Doch Bertoli fügte hinzu: »Aber ich habe es erlebt. Genau so, wie ich Ihnen das sage. Dieser Rouven hat mich so sehr in meinen Gefühlen gepackt, dass ich ihm … ja, es klingt verrückt … völlig hilflos ausgeliefert war. Ich gab ihm die Chipkarte. Aber ich hätte ihm auch meine Autoschlüssel, mein Bargeld und alles gegeben, wenn er danach gefragt hätte.«
Mayers blieb dabei: »Es klingt absolut unglaublich.«
»Mit diesem Jungen stimmt etwas nicht«, sagte Bertoli. »Etwas Besonderes geht mit ihm vor. Glauben Sie mir.«
»Vielleicht war es eine Art Hypnose«, schlug Tallwitz vor. »Das würde einiges erklären.«
Diese Antwort gefiel Mayers augenscheinlich. »Dass wir nicht schon früher daran gedacht haben«, überlegte er. »Das könnte erklären, wie er die Besitzer der Wohnungen mit sich nehmen konnte, ohne dass es Kampfspuren gab. Er hat einfach alle hypnotisiert, und sie sind mit ihm gegangen.«
Auch Tallwitz fand diese Erklärung nachvollziehbar. »Das erklärt wenigstens das Wie «, sagte er. »Wenn auch nicht das Warum .«
»Und es erklärt, was bei der Festnahme mit unserem Kollegen geschehen ist«, grübelte Mayers weiter, »als er meinte, er verbrenne sich die Hände an Rouvens Handgelenken. Das hatte Rouven ihn mittels Hypnose spüren lassen.«
Bertoli schüttelte allerdings energisch den Kopf.
Und auch Tallwitz revidierte schnell seine Überlegungen. »Das alles war keine Hypnose«, sagte er. »Ich habe es doch selbst erlebt. Da ging etwas anderes mit mir vor. Und außerdem: Warum sieht man Rouven auf dem Foto der einen Überwachungskamera allein aus dem Haus gehen? Man hätte doch auch die Familienmitglieder sehen müssen. Und die Verbrennungen unseres Kollegen sind echt. Ich hab die Wunden gesehen. Das schafft man bestimmt nicht mit einer Hypnose.«
Mayers verlor das Lächeln im Gesicht. »Stimmt«, musste er zugeben. »Da ist was dran.«
Die drei blickten betroffen unter sich. Vor allem Mayers hatte sich bisher in seinem Leben noch nie so ausgebremst gefühlt.
B eide konnten sie den Blick nicht mehr von der gezeichneten Figur und den Symbolen auf dem Schulterblatt nehmen. Und beiden fehlten die Worte, das zu beschreiben, was in ihnen
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