Sichelmond
Rouven beim Verlassen des Gebäudes zeigte, dieses Mal allerdings aus einem Nebeneingang.
Mayers bückte sich so weit vor, dass seine Nase beinahe den Bildschirm berührte. »Das ist er wieder«, sagte er. »Aber dieses Mal trägt Rouven eine Polizeiuniform. Er hält auch eine Chipkarte in der Hand. Wie zum Teufel …« Er stockte. Dann drehte er sich langsam zu Bertoli um. »Warum habe ich das Gefühl, dass Sie uns etwas darüber erzählen können?«, fragte er seinen Kollegen, dem augenblicklich heißer Schweiß auf der Stirn stand.
»Bitte setzen Sie sich«, sagte er nur. »Ich werde Ihnen sagen, was ich weiß.«
Mayers und Tallwitz nahmen auf den Stühlen vor den Bildschirmen Platz und blickten Bertoli gespannt entgegen. Mayers hielt es zwar für ratsam, seinem Kollegen etwas mehr als eine Minute einzuräumen. Doch seine Ungeduld war nicht geringer geworden.
Im Gegenteil.
D as Buch musste uralt sein. Und ganz gewiss überaus wertvoll. Etwas Vergleichbares hatte Rouven bestimmt noch nicht in seinen Händen gehalten.
Inzwischen waren er und Tabitha aus der engen Treppenkammer herausgekrochen. Sie hatten sich in die Küche gesetzt, an den langen weißen Tisch, der dort stand. Auf keinen Fall wollte Rouven das Wohnzimmer noch einmal betreten müssen.
Das Buch hatte er so vorsichtig aus der Kammer getragen, als hielte er ein neugeborenes Baby in den Händen. Er verspürte echte Ehrfurcht vor diesem Band, mit seinem dicken Leder und den vergilbten, eingebrochenen Seiten. Jetzt lag es vor den beiden auf dem Tisch, und Rouven wagte kaum, es zu öffnen. Er starrte wie gebannt auf die Symbole des Deckblattes: eine Mondsichel mit einer Vogelkralle darunter.
Und es wurde ihm klar, dass es nicht nur Ehrfurcht war, die ihn zögern ließ, das Buch zu öffnen. Es war auch Angst vor dem, was das Buch offenbaren könnte.
Tabitha versuchte es mit einem Scherz: »Willst du warten, bis es verfilmt wird?«
Rouven lächelte. »Nein. Es ist nur … Ich …« Er streckte die Hand danach aus, berührte das Leder und zog die Hand schnell wieder zurück.
»Oh, beißt es?«
Schnell schüttelte Rouven den Kopf. »Nein. Natürlich nicht. Aber …«
Erneut streckte er die Hand aus. Dann die andere. Mit höchstemRespekt und voller Achtung ergriff er das Buch und zog es näher an sich heran. Dann öffnete er langsam den schweren ledernen Einband.
Der Geruch von Jahrhunderten strömte ihm entgegen. Rouven atmete tief ein und nahm diesen besonderen Duft in sich auf. Er wirkte gleichzeitig fremd und vertraut. Fremd, weil dieser Geruch so gar nicht in diese moderne Küche passen wollte. Aber dennoch vertraut. Gerade so, als weckte dieser Hauch eine Erinnerung in Rouven. Etwas aus der Vergangenheit, dem sich Rouven nicht bewusst war, das es aber dennoch gab. Zwar entstanden keine Bilder vor seinen Augen, doch der Geruch des Buches weckte ein Gefühl in ihm: etwas Heimisches, Inniges … Ein Gefühl der Sehnsucht ergriff ihn.
Tabitha saß an seiner Seite und beobachtete das Geschehen mit großen Augen. Das Buch vor ihr auf dem Tisch fand sie ebenso spannend wie die Reaktionen Rouvens. Auch wenn sie seine Gedanken nicht lesen konnte, verstand sie, dass hier etwas Besonderes vonstattenging.
Für wenige Sekunden genoss Rouven das Gefühl, das durch dieses Buch in ihm ausgelöst wurde. Dann aber blätterte er die erste Seite um. Wieder schaute er auf das bekannte Symbol der Mondsichel und der Vogelkralle. Es war gewiss vor Urzeiten mit schwarzer Tinte auf das Blatt aufgetragen worden. Vielleicht in einer der Schreibstuben eines Klosters im frühen Mittelalter. Von einem Mönch, der sein halbes Leben damit zugebracht hatte, dieses Buch zu erstellen, überlegte Rouven und wunderte sich gleichzeitig, dass er so etwas kannte und wusste.
Rouven blätterte zur nächsten Seite, und nun brach Tabitha ihr Schweigen: »Was ist das für eine Schrift? So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Sanft strich Rouven mit einer Fingerspitze über die Seite. Er konnte die minimale Erhebung der Tinte auf dem Papier sachte erspüren. »Latein ist es nicht«, sagte er mit Bestimmtheit. »Auch keine der anderen biblischen Schriften, die man kennt, also weder hebräisch noch aramäisch oder altgriechisch oder …«
Verblüfft blickte Tabitha Rouven an. Der verstand erst jetzt, was er gerade gesagt hatte, und meinte ebenfalls verwundert: »Hab ich das gerade gesagt?« Er fasste sich an den Kopf. »Woher weiß ich so etwas?«
»Wo du doch sonst
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