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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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keine Erinnerung hast.«
    »Eben. Woher kann ich wissen, dass   …« Er blickte noch einmal auf das Papier, sah sich die Schriftzeichen genau an. »Ich bin mir aber ganz sicher mit dem, was ich dir sage. Wenn ich mich festlegen sollte, würde ich sagen, diese Schrift ist sumerisch.«
    Nun war die Verblüffung Tabithas grenzenlos. »Was? Du kannst dich nicht erinnern, ob du jemals ein Haustier besessen hast, aber du kannst mit Bestimmtheit sagen, dass   … dass diese Schrift   …«
    »… zu den ältesten Schriften gehören muss, die die Menschheit kennt. Die Sumerer waren eine der ersten Kulturen, die eine Schrift erfunden hatten. Wir reden über Mesopotamien. Über eine Zeit vor über viertausend Jahren, also lange vor der ägyptischen Hochkultur oder der griechischen Zivilisation oder   …« Rouven hörte sich reden, und er spürte, dass er sich in allem, was er sagte, absolut sicher war. Dennoch konnte er kaum glauben, was er da von sich gab. Und noch weniger wusste er, woher er dieses Wissen besitzen konnte. »Doch in Mesopotamien kannte man kein Papier. Dort schrieb man in feuchten Ton oder auf Krüge. Dies hier muss die Abschrift sein von einem Text, der einmal auf einer sumerischen Tontafel gestanden hat und der   …«
    Tabitha sah Rouven mit aufgerissenen Augen an, dann lachte sie unsicher auf. »Rouven, du bist das Erstaunlichste, was mir jemals begegnet ist. Du überraschst mich immer wieder.«
    Er nickte. »Ich überrasche mich ja selbst immer wieder.«
    »Ich weiß, ich wiederhole mich allmählich, aber wie kannst du das alles wissen?«
    Er zog die Schultern in die Höhe. »Das ist alles in mir drin. Ich sage nur, was mir gerade in den Sinn kommt, aber es stimmt ganz sicher.«
    Tabitha schüttelte ratlos den Kopf. Doch dann wurde sie wiederernst und zeigte auf das Buch. »Und, Herr Professor für unerklärliches Wissen, kannst du es?«
    »Kann ich was?«
    »Kannst du die Schrift lesen?«
    Sie schob ihm das Buch näher heran, und Rouven besah sich die Zeichen nun genauer. Die einzelnen Striche wirkten im ersten Moment wie planlos aufgezeichnet. Einzig die typischen Vertiefungen an jeweils einem Ende der Linien   – kleine Keile, denen diese Schrift ihren Namen verdankte   – gaben dem Ganzen eine Art Richtung vor. Manchmal standen zwei Linien einfach nur nebeneinander, manchmal liefen gleich mehrere Linien übereinander weg oder überkreuzten sich. Manche waren pfeilartig angeordnet, manche gebündelt, wieder andere Striche standen allein für sich. Die allermeisten Linien wiesen einen Keil auf, nur wenige waren ohne dieses Merkmal gezeichnet worden.
    Rouven blickte auf dieses ungewohnte und völlig fremdartige Muster wie auf eine Kinderzeichnung voller Kreise und Linien, deren Motiv sich dem Betrachter erst dann erschließt, wenn das Kind die einzelnen Dinge benennt. Dann plötzlich werden Kreise zu Köpfen und Linien zu Beinen, Armen, Straßen.
    Ganz ähnlich erging es Rouven nun mit diesen Schriftzeichen. Aus dem Wirrwarr von Strichen und Keilen formten sich allmählich Zusammenhänge. Manche Kombinationen kehrten immer wieder. Andere traten nur ein einziges Mal auf. Rouvens Gehirn stellte unvermittelt Verbindungen her. Verknüpfungen, die für ihn in diesem Muster langsam einen Sinn ergaben. Rouven hätte es nicht erklären können, doch plötzlich ließen sich Abfolgen erkennen, beinahe wie ein Code. Er verstand nicht alles. Nur einen Bruchteil.
    »Dies hier bedeutet Seele«, sagte er, während er auf eine Ansammlung von Schriftzeichen zeigte, die sich in einer der obersten Reihen befand. Sein Finger wanderte ein paar Zeilen weiter. »Und dies hier steht für den Mond«, fügte er hinzu. Und plötzlich wurde ihm wieder bewusst, was er dort tat. Erschrocken zog er den Finger zurück.
    Tabithas Blick verriet, dass sie sich ebenso wunderte wie Rouven. »Was geschieht hier?«, fragte sie ihn. »Mir läuft eine Gänsehaut über den ganzen Körper.«
    Rouven sah ihr verständnislos entgegen. »Ich kann es dir nicht sagen. Ich kann mir selbst nicht erklären, wie das möglich ist.«
    »Wir müssen unbedingt versuchen, mehr über dich zu erfahren«, sagte Tabitha.
    Rouven nickte nur und richtete seine Aufmerksamkeit schnell wieder auf das Buch. »Es kann lange dauern, bis ich alles entziffert habe«, sagte er. »Wochen. Vielleicht Monate. Es sind so viele Schriftzeichen, und ich verstehe erst einmal nur einen winzigen Bruchteil davon.«
    »Na, es reicht aus, um mich völlig zu beeindrucken«,

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