Sichelmond
Mayers.
Bertoli drückte einen Knopf, und nun begann die Zeitanzeige auf dem Bildschirm zu rasen. Stunden wurden zu Sekunden. Nur selten tat sich etwas rund um das Gebäude. Dann und wann sahen sie, wie im Zeitraffer Polizeiwagen vorfuhren und Kollegen sich – wie hektisch angetrieben – von ihren Autos ins Gebäude begaben. Gegen sechs Uhr morgens herrschte zum Dienstbeginn das meiste Treiben. Kollegen gingen und Kollegen kamen. Es gab keine Besonderheiten. Und vor allem: Es gab keinerlei Lebenszeichen von Rouven.
Mayers kratzte sich die Stirn. »Was geht hier vor? Durch ein Fenster kann er nicht entkommen sein. Nicht aus diesem Präsidium! Verdammt … Wir tappen hier wie die …«
Tallwitz betrat den Raum. In seiner Hand hielt er einen Zettel. »Ich hab die Adresse herausgefunden, die zu dem Telefon gehört.«
»Perfekt«, brummte Mayers. »Wenigstens mal eine gute Nachricht in all dem Chaos. Lass uns fahren. Hier drin zerspringt mir noch der Schädel.«
Tallwitz steckte den Zettel ein. »Was ist denn los?«
»Sag ich dir im Wagen«, knurrte Mayers nur noch missgelaunt, dann ging er Tallwitz voraus.
D en Weg in die südliche Vorstadt, dorthin, wo die riesigen Platten bauten standen, hatten sie schweigend zurückgelegt. Keiner von beiden hatte Worte gefunden für das, was in ihnen vorging. Rouven fühlte sich mit all seinen Problemen wie ein Bergsteiger, der Tabitha, mit all ihren Fragen, vor dem Absturz retten wollte, während sie bereits im freien Fall versuchte, ihn zu halten. Dieses Bild erschien zum Greifen real vor seinem geistigen Auge: Tabitha und er an einem steilen Hang. Beide stürzend und unfähig, einander beizustehen.
Nach stundenlangem Marsch zeigte Tabitha auf eine der scheinbar zahllosen Wohnungstüren in einem Hochhaus, das wie Dutzende andere Hochhäuser in der langen Straße aussah.
»Das muss es sein«, sagte sie und zeigte auf die Hausnummer an der Wand.
Rouven war weiterhin nicht wohl bei dem Gedanken, sich hypnotisieren zu lassen. Eher Tabitha zuliebe hatte er zugestimmt und war mit hierhergekommen. Sie war so überzeugt von ihrer Idee, dass er nicht hatte widersprechen wollen.
Doch jetzt, wo sie nur noch wenige Schritte davon entfernt waren, stieg eine Unruhe in Rouven auf. Zusammen mit dem Bedürfnis umzukehren und lieber auf anderem Weg nach den Symbolen zu suchen. Oder die Schrift des Buches weiter zu entziffern. Noch immer trug er es in der Jutetasche mit sich, und es war ihm, als riefe das Buch nach ihm. Er konnte es kaum erwarten, endlich wieder die Seiten aufzuschlagen.
Tabitha zuliebe beherrschte er sich aber und tat ihr den Gefallen, sie hierher zu begleiten.
Tabitha schien von all seinen Überlegungen nichts zu ahnen. Sie war voller Hoffnung, als sie an die Tür der Wohnung klopfte.
Noch immer sprachen sie kein Wort miteinander, sondern warteten schweigend vor der Tür. Aus einem Hinterhof drang Hundegebell an ihre Ohren, in der Ferne schrie ein Kind. Rouven blickte sich um. Die Wände waren grau und schulterhoch mit Graffiti beschmiert. An Fenstern und Türen hatten die Jahreszeiten ihre Spuren hinterlassen. Das Holz der Rahmen war rissig, zum Teil bildete sich schon Moos in den Rillen. Auf dem Boden lagen halb gerauchte Zigaretten und viel Verpackungsmüll.
Auch Tabitha sah sich um, und Rouven merkte ihr an, dass sie sich nicht wohlfühlte in dieser Gegend. Ihm selbst ging es anders. Zwar fehlte diesen Häusern jeglicher Glanz, und keines bot auch nur im Ansatz eine vergleichbare Gemütlichkeit wie ihre Halle im Wasserwerk, doch Rouven ging es gut bei dem Gedanken, dass es in diesen Häusern sicher Menschen gab, denen es erging wie ihm. In dieser tristen, farblosen Umgebung, so vermutete Rouven, stieß er gewiss auf einige Leute, die ohne Zögern bereit waren, ihr Leben gegen seines einzutauschen. Deshalb verspürte Rouven zum ersten Mal eine Art von Gemeinschaftsgefühl, obwohl er noch keinen der Bewohner hier gesehen hatte.
Sie standen bereits einige Minuten vor der verschlossenen Tür und Rouven schöpfte schon Hoffnung, dass niemand zu Hause sei und er wenigstens für heute um die Hypnose herumkam, als endlich Schritte in der Wohnung zu hören waren.
Aufgeregt wandten sich Tabitha und Rouven wieder der Tür zu. Sie hörten, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Dann noch einer. Wieder einer.
Ein Schlüssel drehte sich in einem Schloss der Tür. Dann noch einer. Wieder einer.
Schließlich wurde geöffnet.
Vor ihnen stand eine Frau, die
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