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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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vergleichbar mit dem Chaos der Wohnungen, in denen Rouven nach Neumondnächten erwacht war. Alles in diesem Raum schien am falschen Platz zu stehen. Die Sessel und das Sofa passten nicht zusammen, weder von der Form noch von der Farbe. Dem riesigen Schrank, der beinahe eine ganze Wand bedeckte, fehlten die meisten Türen. Oder aber die Türen, die noch vorhanden waren, hingen schief in ihren Scharnieren. In einer Ecke des Raumes entdeckte Rouven eine Waschmaschine, deren Glastür einen tiefen Sprung aufwies.
    Die Tapete musste uralt sein. Rouven vermutete, dass sie einmal gelb gewesen sein konnte. Jetzt sah sie grau aus. Ganze Stücke fehlten, es gab Risse in ihr, die von der Decke bis zum Boden reichten. Der hellrote Teppich wies mehr Flecken als Muster auf.
    Überall im Raum standen Tassen, Teller und Gläser herum. Zeitungen stapelten sich meterhoch in den Ecken. Kleidungsstücke hingen über Lehnen und Polster. Und über alledem hing ein wahrhaft abstoßender Geruch in der Luft. Rouven vermutete, dass die Katze, die ihn misstrauisch von einem der Sessel aus beäugte, nicht die einzige in der Wohnung war.
    Und tatsächlich: Auf dem riesigen Schrank lag eine zweite. Und hinter dem Sofa schaute die Schwanzspitze einer dritten Katze hervor.
    Einen Fernseher gab es nicht. Ebenso entdeckte Rouven weder Radio noch Telefon. Es hingen auch keine Bilder an der Wand. Lediglich ein kaputter Bilderrahmen lehnte gegen den Schrank. DasBild, das einst darin zu sehen gewesen war, hing jetzt trostlos in Fetzen zwischen den Rahmenteilen. Sicherlich war es das Opfer verspielter Katzenkrallen geworden.
    »Gemütlich, nicht wahr?«, ließ Mathida Baswani ihre Stimme erklingen.
    Rouven wusste nicht, wohin mit seinen Blicken. Auch Tabitha blickte sich angeekelt um. Diese Wohnung stand in völligem Gegensatz zu der äußerst gepflegten Erscheinung der Frau.
    Sie lachte dröhnend auf. »Lass gut sein, Junge. Erspar dir die Antwort. Ich will dich nicht unter Druck setzen. Tee?«
    Rouven schüttelte schnell den Kopf. Keinesfalls wollte er in diesen Wänden irgendetwas essen oder trinken.
    Mathida Baswani lachte wieder. »Dachte ich mir schon. Dann kommen wir eben gleich zur Sache. Womit kann ich dir helfen?«
    »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, gab Rouven ehrlich zu.
    »Ist immer gut, vorn anzufangen«, erwiderte Mathida Baswani. »Wie wäre es, wenn du mir einfach mal deinen Namen nennst?« Ihre Laune hob sich mit jeder Sekunde. Sie schien ihr anfängliches Misstrauen Rouven gegenüber abzulegen und sich augenscheinlich sogar über seinen Besuch zu freuen.
    In Rouven kam keine Freude auf. Er fühlte mit Tabitha, die völlig verstört neben ihm stand. Gegenüber einer Frau, die sie nicht sehen konnte, mit dem Wissen, dass sie gestorben sein sollte, und mit der Verwunderung darüber, dass ihre Eltern, die stets auf ihr Äußeres bedacht waren, viel Zeit in dieser völlig verwahrlosten Wohnung zugebracht haben sollten.
    Rouven versuchte, sich wieder auf die Frau zu konzentrieren. »Rouven«, gab er schnell zur Antwort.
    Sie strahlte. »Na, prima. Das ist doch schon mal ein Anfang. Rouven. Und wie weiter?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Oh!« Sie verlor das Strahlen in ihrem Gesicht nicht. »Dann verrate mir einfach, wie alt du bist. Oder woher du kommst.«
    Rouven wurde verlegen. »Das   … nun, das kann ich Ihnen auch nicht sagen.«
    Das Gesicht verlor nun doch etwas von seinem fröhlichen Glanz. »Namen deiner Eltern?«, fragte sie, und Rouven schüttelte den Kopf.
    »Schulbildung?«
    Wieder ein Kopfschütteln.
    »Freunde?«
    Rouven blieb ihr die Antwort schuldig, und Mathida Baswani verlor alle Freude aus dem Gesicht. »Nun glaube ich dir, dass du Hilfe brauchst«, sagte sie mitfühlend. »Hast du nichts, woran du dich erinnerst?«
    Rouven blickte ihr fest in die Augen: »Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, ob ich als Kind vielleicht das Seepferdchen-Schwimmabzeichen gemacht habe.«
    Nun lachte Mathida Baswani doch noch einmal auf und steckte Rouven ein wenig an. Er lächelte ein wenig über seinen Scherz.
    »Na, wenigstens an deinen Humor kannst du dich noch erinnern«, sagte die Frau. »Und das ist überaus wichtig.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Bitte nenn mich Mathida, ja?«
    Er ergriff ihre Hand. »Gern.«
    Aus den Augenwinkeln heraus suchte Rouven Tabithas Blick. Sie lächelte ihm zu und gab ihm damit zu verstehen, dass sie richtig fand, wie er vorging. Dass sie nichts sagte, das konnte Rouven sehr gut verstehen.

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