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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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Rouven mit keinem anderen Menschen vergleichen konnte, den er bisher gesehen hatte. Sie war mindestens einen Kopf größer als Rouven. Sie steckte in einem einteiligen Kleid, das in kunterbunten Farben und wilden Mustern an ihrem ganzen Körper entlang zu fließen schien. Um ihren Kopf hatte sie ein Tuch des gleichen Musters gebunden. Darunter blickten Rouven die klarsten Augen an, die er bisher gesehen hatte. Er hätte nicht bestimmen können, ob sie eher blau oder eher grau waren. Sie wirkten wie zwei funkelnde Kristalle. Dieser Effekt wurde von der tiefdunklen Haut der Frau noch hervorgehoben. Ihre vollen Lippen waren rot geschminkt und stachen ebenfalls hervor. Rouven konnte ihr Alter keinesfalls einschätzen. Sie hätte über dreißig Jahre oder auch sechzig Jahre alt sein können. Ihr Gesicht wies keine Falten auf, doch sah man der Frau an, dass sie schon einiges in ihrem Leben ertragen und durchgestanden hatte.
    Kein Zweifel, diese Frau, die mit ihrem massigen Körper beinahe die ganze Tür ausfüllte, war die imponierendste Gestalt, der Rouven bisher gegenübergestanden hatte.
    »Kann ich dir helfen?« Selbst die Stimme schien ein Teil dieses Gesamtkunstwerks zu sein.
    Rouven blickte auf Tabitha, dann wieder zu der Frau. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte, und Tabitha ging es wohl ähnlich.
    »Mathida Baswani? Sind Sie das?«
    »Ja, das bin ich. Worum geht es?«
    »Nun, wir sind hier, weil   …«
    Die Frau zog die Augenbrauen nach oben. »Wir?« Sie blickte suchend an Rouven vorbei.
    »Tabitha und ich«, antwortete Rouven unsicher und merkte, wie auch Tabitha unruhig wurde.
    Mathida Baswani zog die Schultern in die Höhe. »Und, wo ist sie?«
    Rouven fehlten die Worte, daher übernahm Tabitha: »Hier. Hier bin ich«, sagte sie, doch die Frau schien sie nicht zu hören.
    Nun wusste Rouven erst recht nicht, wie er sich verhalten sollte. Die Frau in der Tür wurde ungeduldig. Doch sie bemerkte, dass mit Rouven etwas vor sich ging, und deshalb versuchte sie es mit einemunverfänglichen Gespräch. »Tabitha«, sagte sie. »Seltener Name. Ich kannte mal ein Mädchen mit diesem Namen. Ihr Vater   …«
    »Ihr Vater hat dank Ihrer Hilfe das Rauchen aufgeben können«, unterbrach sie Rouven schnell, und Mathida Baswani lächelte.
    »Genau. Kanntest du sie?«
    Rouven fühlte sich mehr und mehr unwohl in seiner Haut. Tabitha stand an seiner Seite. Heiße Tränen liefen ihr die Wangen hinab.
    »Tabitha hat mir geraten, zu Ihnen zu kommen.«
    Die Frau blickte skeptisch. »Sie hat es dir gesagt?«
    Rouven wagte einen Vorstoß: »Heute Morgen.«
    Mathida Baswani winkte energisch ab. »Das kann gar nicht sein. Die Tabitha, die ich kenne, ist vor sieben Jahren gestorben. Es hatte einen merkwürdigen Unfall gegeben. Ihre Eltern haben vor Trauer beinahe den Verstand verloren. Du musst wissen, dass der Vater nicht nur das Rauchen in dieser Wohnung aufgegeben hat. Nach Tabithas Tod waren die Eltern beinahe jede Woche hier. Gemeinsam haben wir die Trauer und den Schmerz verarbeitet. Deshalb glaub mir, Junge: Die Tabitha, an die ich denke, kann dir keinesfalls heute Morgen Ratschläge erteilt haben.«
    Tabitha schluchzte. Sie hörte die Worte ebenso wie Rouven sie hörte. Und sie glaubte der Frau so wie Rouven ihr glaubte. Doch genau wie er konnte sie das alles nicht begreifen.
    Mit einem letzten grüblerischen Blick auf Rouven zog Mathida Baswani die Tür zu. »Tut mir leid, mein Junge, du musst dich geirrt haben.«
    Rouven streckte rasch eine Hand aus und hielt die Tür auf.
    »He!«, beklagte sich die Frau. Doch mit einem erneuten Blick in Rouvens verzweifeltes Gesicht öffnete sie wieder die Tür.
    »Sie sind meine einzige Hoffnung«, sagte er, und in Tabithas Richtung gewandt fügte er schnell hinzu: »Unsere einzige Hoffnung.«
    Mathida Baswani nickte. »Du siehst wirklich aus wie jemand, der Hilfe braucht.« Sie trat einen Schritt zur Seite. »Komm rein.«
    Rouven bedankte sich mit einem Kopfnicken, dann trat er indie Wohnung. Tabitha huschte, kurz bevor die Frau die Tür schloss, ebenfalls mit hinein.
    »Durch den Gang bitte«, sagte Mathida Baswani. »Letzte Tür rechts.«
    Rouven wartete auf das übliche »Aber schau dich nicht um, ich hab nicht aufgeräumt«, das wohl beinahe jeder Mensch von sich gab, wenn er überraschend Besuch bekam, doch die Frau sagte es nicht. Und dabei wäre es gerade bei ihr angebracht gewesen, wie Rouven dachte, als er den Raum betrat.
    Die Unordnung in diesem Wohnzimmer war beinahe

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