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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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Alles das musste ihr die Sprache verschlagen.
    In diesem Moment spürte Rouven, wie Mathidas Händedruck nachließ. Sie sah ihn mit einer entschlossenen Ernsthaftigkeit an. »Sie ist hier, oder?«, fragte sie in einem Ton, der Rouven einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Auch Tabitha horchte auf.
    »Tabitha«, forschte Mathida weiter nach. »Ist sie hier im Raum?«
    Rouven konnte gar nicht anders, als auf diese direkte, offene Frage mit Ehrlichkeit zu antworten. »Sie steht hier neben mir.«
    Augenblicklich schossen Mathida Tränen ins Gesicht. »Tabitha. Hörst du mich?«
    Tabitha ging auf die Frau zu. »Ja«, sagte sie, doch Mathida schien sie nicht zu hören.
    Rouven übernahm daher das Antworten: »Sie kann sie verstehen«, sagte er.
    Mathida blickte suchend durch den Raum.
    »Sprechen Sie mit ihr«, schlug Rouven vor, selbst völlig eingenommen von diesem ungewöhnlichen Moment.
    »Tabitha   …« Der Name schien durch den Raum zu schweben, als Mathida ihren ersten Versuch wagte, das Mädchen anzusprechen. »Es ist schön, dass du hier bist. Ich wollte dich immer schon kennenlernen.« Sie streckte beide Hände aus. Tabitha fasste danach, doch ihre Finger fuhren durch Mathidas Hände wie durch einen Nebel hindurch. Die Frau spürte nichts von Tabithas Anwesenheit.
    »Du musst wissen«, sagte Mathida, »dass deine Eltern dich geliebt haben. Sehr sogar.«
    Nun rannen erneut Tränen über Tabithas Gesicht. Doch dieses Mal waren es keine Tränen der Verzweiflung.
    »Sie haben oft hier gesessen und über dich gesprochen«, erklärte Mathida weiter. »Sie waren verzweifelt. Sie haben dich vermisst. Und sie wussten die Lücke in ihrem Leben nicht auszufüllen.«
    Tabitha hörte die Worte. Sie schluchzte. Haltsuchend klammerte sie sich an Rouvens Arm, und er wunderte sich wieder, dass er sie sehen, hören und spüren konnte, während andere Menschen sie nicht bemerkten.
    »Der Tag deines Unfalls hatte alles verändert. Es war, als hätte man deinen Eltern das Herz herausgerissen. Du warst ihr Lichtblick. Ihr Lebensmittelpunkt. Und mit einem Mal warst du weg. Gestorben. Dein Vater hat hier bei mir gesessen und ganze Nächte hindurch nur geweint. Und deine Mutter   …« Mathida seufzte. »Sie wusste mit ihrem Schmerz nicht mehr umzugehen. Stunden um Stunden haben wir zusammengesessen und Fotos geschaut. Bilder aus deiner Kindheit. Und in diesen Momenten war es ihr, als sei ein Stück von dir zurückgekommen. Sie hatte nur noch lachen können, wenn sie deine Fotos betrachtet hat. Sie hat über die Bilder gestreichelt, deinen Namen geflüstert und mir berichtet, was ihr alles erlebt und gesehen habt.« Auch ihr flossen Tränen aus den Augen. »Sie haben dich so geliebt«, wiederholte sie.
    Rouven schwieg. Er überließ die beiden ganz ihren Gefühlen. Er verzichtete auf Fragen. Er wollte nicht nachhaken. Dazu war sicher später noch Zeit. Er spürte, wie sich mit allen vergossenen Tränen in Tabitha etwas löste. Das Beste, was er ihr nun schenken konnte, war Halt. Sie sollte erfahren, dass er für sie da war. In dieser verzweifelten Situation.
    Jetzt war die Zeit für Gefühle. Später würde es eine Zeit für die Fragen geben.
    Eine ganze Weile standen sie eng beieinander. Bis Mathida sich plötzlich fing. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, richtete sich das Tuch um ihren Kopf und sagte: »Wo sind nur meine Manieren? Entschuldigt, ihr beiden. Meine Gastfreundschaft muss euch ja Angst machen, oder? Lasst uns setzen. Und dann besorge ich doch mal einen Tee oder etwas Gebäck oder   …«
    Rouven wagte nicht zu widersprechen. Er sah sich nach den beiden Sesseln um und ging auf den zu, auf dem nicht die Katze lag. Etwas angewidert hob er eine schimmelige Kaffeetasse von einem Stapel Zeitungen, um sich etwas Platz zu schaffen.
    »Aber nicht doch«, hörte er Mathida schimpfen. »Du glaubst doch nicht, dass ich euch hier in diese Müllhalde setze. Kommt mit!«
    Rouven stellte die Kaffeetasse wieder auf dem Zeitungsstapel ab und folgte Mathida aus dem Raum. Auch Tabitha ging ihnen nach, tief in ihre Gedanken versunken.
    Mathida führte die beiden durch den Flur in eine der vorderen Türen. Rouven zögerte kurz, einzutreten, denn der Raum, in dem Mathida verschwand, war das Badezimmer. Er wusste nicht, ob sie kurz verschwinden wollte oder ob sie wirklich von Rouven und Tabitha erwartete, dass sie ihr hier hinein folgten.
    Doch dann hörte er sie rufen: »Kommt ihr bitte?« Und die beidenbetraten den grün

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