Sichelmond
Fröhlichkeit war aus Tabithas Gesicht verschwunden. So, wie sie vor ihm stand, schien sie nur aus Angst und Unsicherheit zu bestehen.
»Ich war wütend, das hast du ja bemerkt«, begann sie ihre Erklärung. »Du musst zugeben, dass es ziemlich verrückt klingt, wenn jemand vor dir steht und dich fragt, ob du nicht vielleicht tot bist. Ich dachte, du machst dich über mich lustig oder treibst irgendeinen üblen Scherz. Du hast mir Angst gemacht an diesem Abend, und ich war einfach nur überfordert.«
Rouven trat näher an sie heran. »Ich weiß. Ich muss mich bei dir entsc h …«
Sie legte die Fingerspitzen auf seinen Mund und fuhr fort: »Doch dann warst du weg. Und ich stand allein mit Nana in unserer Halle. Ich hatte mich dann in unsere Ecke verkrümelt. Du hast mir gefehlt. Ich fühlte mich allein. Sehr allein. Obwohl Nana in dem Wasserwerkwar. Irgendwann bin ich dann eingeschlafen, und ich kann dir gar nicht sagen, wie lange.«
Rouvens Hand suchte ihre Hand. Er wollte ihr zeigen, dass er hinter ihr stand. Was immer sie ihm auch zu sagen hatte.
»Nachdem ich wieder aufgewacht war, wurde mir klar, dass ich für Nana sorgen musste. Also zog ich los, zur Tafel. So, wie du mir es gezeigt hattest.«
Rouven erinnerte sich an den nachgefüllten Proviantschrank neben Nanas Bollerofen. Tabitha hatte sich also um die Großmutter gekümmert. Er spürte eine Erleichterung.
Tabithas Griff in Rouvens Hand verstärkte sich. Die Erinnerungen, die in ihr hochkamen, schienen schmerzvoll zu sein.
»Erinnerst du dich an unseren ersten Tag dort?«, fragte sie. »Daran, dass niemand Notiz von mir genommen hatte? Damals dachte ich, die Leute würden mich nicht bemerken, weil sie auf dich fixiert waren. Es war ihnen ja anzusehen, wie sehr sie sich über deinen Besuch gefreut hatten. Und deshalb hatte auch keiner einen Blick für mich übrig. So zumindest dachte ich damals. Aber dann …«
»Ja?« Rouven bemerkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
»Als ich allein dort ankam, war alles genauso. Niemand schien mich zu bemerken. Nein, schlimmer noch: Ich stellte mich vor die Leute, ich sprach sie an und bat um Kartoffeln für Nana. Aber die Menschen, sie … sie …«
Tabitha schluchzte. Sie zog ihre Hände zurück und hielt sie sich vor die Augen. »Sie sahen durch mich hindurch. Verstehst du? Als sei ich gar nicht dort. Als sei ich Luft. Als sei ich …« Sie nahm die Hände vom Gesicht und blickte Rouven verstört an. »Als sei ich ein Geist.«
Rouven hörte ihre Worte, doch er wusste keine Antwort.
»Ich rannte durch die Stadt«, erklärte Tabitha weiter. »Überall waren Menschen. Doch niemand konnte mich sehen. Schlimmer noch: Rouven, ich habe mich den Leuten entgegengestellt. Ich habe versucht, sie anzurempeln oder anzustoßen.«
Rouven fürchtete sich vor der Antwort auf seine Frage: »Wie haben sie reagiert?«
Tabitha schluckte. Rouven konnte klar erkennen, wie ein Ruck durch ihren Körper ging, bevor sie antwortete: »Sie sind durch mich hindurchgegangen!«
M ayers drehte sein Handy so herum, dass Tallwitz das Display ablesen konnte.
»Das ist die Nummer, von der aus er angerufen hat«, sagte Mayers, und Tallwitz verstand sofort: »Gib mir eine Minute, dann weiß ich, zu welcher Adresse die Nummer gehört.«
Und damit eilte er sich, in sein Büro zu kommen.
Mayers wandte sich Bertoli zu. »Und an Sie habe ich auch eine Bitte.« Er hob schnell die Hand. »Nein, zwei Bitten.«
Bertoli war gespannt: »Was soll ich tun?«
»Zunächst einmal die Klappe halten über alles, was in den letzten zwölf Stunden passiert ist.«
Bertoli lachte erleichtert. »Ja, das kann ich Ihnen gern versprechen. Erstens ist es mir ohnehin peinlich, dass mir der Kerl aus der Zelle entwischt ist. Und zweitens verstehe ich nichts von allem, was Rouven sonst betrifft. Was ist Ihre zweite Bitte?«
Mayers deutete zum Bildschirm. »Zeigen Sie mir die Überwachungskameras der letzten Nacht.«
Bertoli verstand. »Sie möchten sehen, wann er geflohen ist.«
»Und vor allem, wie.«
Der Italiener machte sich schnell an das Gerät. »Das ist leicht«, sagte er. »Die letzten vierundzwanzig Stunden sind ja stets in dem Rekorder gespeichert.« Er drückte ein paar Knöpfe, dann ließ er das Überwachungsvideo laufen. Auf dem Bildschirm erschienen gleich vier Aufnahmen nebeneinander. Alle vier Eingänge wurden synchron überwacht und die Aufnahmen gespeichert.
»Können Sie das im Schnellverfahren laufen lassen?«, bat
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