Sichelmond
befinden sollte. Siewusste nicht recht damit umzugehen. Sie fühlte sich betrogen, zerrissen … buchstäblich: leer.
Nun konzentrierte sie sich auf Rouven. Sie war ihm überaus dankbar, dass er sich auf diese Hypnose einließ. Tabitha versprach sich sehr viel davon. Gleichzeitig aber fürchtete sie sich vor dem, was möglicherweise ans Tageslicht gebracht wurde.
Doch diese Gefühle unterdrückte sie in diesem Moment. Es hatte in der letzten Zeit ohnehin kaum noch Augenblicke ohne Furcht gegeben. Die Angst war Tabithas ständiger Begleiter geworden, doch es gelang ihr nicht, sich daran zu gewöhnen.
Sie beobachtete gebannt, wie Rouvens Gesichtszüge sich allmählich entspannten, wie sich seine Schultern senkten und er mehr und mehr in dem Sessel versank, in dem er saß, während Mathida weiter auf ihn einsprach: »Lass dich von meiner Stimme führen wie von einem guten Freund. Lass uns auf Wanderschaft gehen. Eine Wanderung durch dein Leben. In der Zeit zurück.«
Rouven saß nun völlig entspannt in seinem Sessel. »Hmmm … nicht funktionieren«, murmelte er kaum verständlich. »Tut … mmmmir … leid …«
Und in diesem Moment unterstand er fest Mathidas Führung.
Rouven selbst spürte nichts von seinem Zustand. Er hinterfragte nicht, warum er plötzlich vor dieser Schule stand. Mit einem Mann und einer Frau an seiner Seite. Er hinterfragte auch nicht, woher diese angenehme Stimme kam, die ihn wie aus weiter Entfernung fragte: »Wo befindest du dich im Augenblick, Rouven?«
»Vor einer Schule«, gab er gefügig zur Antwort. »Vor meiner Schule. Ich werde gerade zum Unterricht gebracht.«
»Wer bringt dich dorthin?«, fragte die Stimme auf beruhigende, einfühlsame Weise. »Sind es deine Eltern?«
»Nein«, antwortete Rouven mit Bestimmtheit und wunderte sich nicht, dass er es wusste. »Es sind meine Pflegeeltern. Sie bringen mich hierher.«
Die Stimme forschte weiter nach: »Fühlst du dich gut?«
»Ja. Ich bin gern hier. Ich mag meine Pflegeeltern. Und sie mögen mich.«
»Rouven, kannst du mir sagen, in welchem Jahr wir uns befinden?«
Rouven blickte sich in diesem Bild seiner Vergangenheit um. Er sah eine Uhr auf der Außenwand dieser Schule, er sah andere Kinder in das Haus strömen, auch eine Lehrerin, die am offenen Fenster stand und den Kindern zuwinkte. Als sie sich wieder ihren Vorbereitungen zuwandte und das Fenster verließ, konnte Rouven einen Blick auf den Kalender hinter ihr an der Wand erhaschen.
»Wir sind im Jahr 1948«, antwortete Rouven. »Es ist September. Und warm.«
Eine Pause entstand. Rouven wartete auf die nette Stimme. Er wusste nicht recht, was er tun sollte, also blickte er sich weiter um. Seine Adoptiveltern sprachen miteinander. Die Frau ließ ihre Hand auf Rouvens Schulter ruhen, und er war ihr dankbar für diese Geste. Beiden Erwachsenen war anzumerken, wie sehr sie Rouven schätzten und mochten.
Die Stadt, in der sich die Schule befand, kam ihm bekannt vor. Und dann auch wieder nicht. Alles wirkte gleichzeitig vertraut und doch wieder fremd. Rouven spürte, wie eine Unruhe in ihm aufkam. Er wusste sich nicht recht zu verhalten und hoffte nur, dass diese nette Stimme ihn bald wieder ansprach und ihn aus dieser Situation befreite.
Aus den Augenwinkeln konnte er ganz in der Nähe der Schule etwas entdecken, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Etwas, das unmittelbar mit ihm zu tun haben musste, doch Rouven konnte sich hier und jetzt nicht erklären, was. Er drehte den Kopf und blickte auf dieses Bild, das ihn wie magisch anzog. Es bestand aus zahllosen Farben und schien zu leuchten.
In diesem Moment hörte Rouven die vertraute Stimme wieder, und erleichtert atmete er auf. Nun konnte er seine ganze Konzentration wieder darauf richten und musste sich keine Gedanken um dieses Bild machen, das er in der Ferne sah. Er musste sich nicht mehrfragen, warum es zu leuchten schien oder was diese Mondsichel und diese Vogelkralle zu bedeuten hatten, die er von hier aus erkennen konnte.
»Rouven?«
»Ich bin hier.«
»Entschuldige, dass ich dich habe warten lassen«, sagte die Stimme. »Bist du sicher, dass wir uns im Jahr 1948 befinden?«
Rouven tat ihr gern den Gefallen und schaute noch einmal zu dem Schulfenster. Inzwischen war es geschlossen worden. Einige Kinder saßen schon in dem Raum. Bald würde der Unterricht beginnen.
Durch die Scheibe hindurch konnte Rouven noch immer den Kalender erblicken. Und auch die Jahreszahl darauf. »Ja«, gab er zur
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