Sichelmond
eigenen Augen.
Eindeutig. Ohne jeden Zweifel.
Das Gesicht des vogelartigen Menschen auf dem Fensterbild war eindeutig Rouvens Gesicht. Die Figur des Kunstwerkes trug exakt Rouvens Züge.
Es war Rouven, der in den Kampf mit dem Stierwesen verstrickt war.
E s hatte einige Zeit gebraucht, bis er sich wieder gefasst hatte. Und Tabitha hatte ihm diese Zeit gelassen. Wie lange Rouven an das Stahlrohr gelehnt schweigend auf Tabitha und Nana gestarrt hatte – das konnte er nicht einschätzen. Minuten hätten es gewesen sein können oder auch ganze Ewigkeiten. Doch allmählich gelang es ihm, sich mit den Tatsachen abzufinden, auch wenn alles unglaublich war und dieses Wissen schmerzte.
»Was hast du vor?«, fragte Tabitha schließlich. Mit einem Glas Wasser saß sie vor Rouven auf der Erde, eingehüllt in Decken und Kissen.
Rouven hatte sich inzwischen auf einem der Stühle niedergelassen und schaute nachdenklich auf Tabithas Glas.
»Den Spuren folgen«, war seine Antwort. »Ich muss das tun, was man mir aufgetragen hat.«
»Kannst du mir sagen, was genau du in der Hypnose gesehen hast?«, fragte sie.
»Ich bin schuld an deinem Tod«, platzte es aus Rouven heraus.
»Was hast du gesehen?«
An ihrer Reaktion erkannte Rouven, dass Tabitha es bereits geahnt hatte.
»Dich. Auf meinen Knien. Tot. Und hinter mir schrie eine Stimme, dass ich schuld daran bin. Dass ich …«
»Was hast du noch gesehen?«, unterbrach ihn Tabitha. Sie wollte keinesfalls, dass er sich wieder in diesen Gedanken hineinsteigerte. Auch ihr war es unheimlich, dass gerade Rouven an ihrem Tod schuld sein sollte. Auch ihr machte dieses Wissen Angst, und sie fragte sich, woher sie Rouven vorher gekannt haben sollte. Sie war bisher sichergewesen, ihn hier im Park zum ersten Mal gesehen zu haben. Vor wenigen Wochen. Wochen, die ihr inzwischen wie ein halbes Leben vorkamen. Beinahe so, als gehöre das andere Leben, das sie einst mit ihren Eltern geführt hatte, einem ganz anderen Menschen. Gerade so, als habe sie nur davon gehört oder gelesen. Sie fühlte sich, als gehöre sie schon immer hierher, in dieses Wasserwerk und an die Seite von Rouven und Nana.
Nana.
Tabitha schaute erneut zu ihr hinüber. Die Frau ruhte sich von ihrer Arbeit aus. Sie lag auf ihrem Bett auf der Seite und war kurz davor einzuschlafen. Inzwischen verstand Tabitha Rouvens Worte, die er ihr am allerersten Tag über Nanas Zustand gesagt hatte. Inzwischen beneidete auch Tabitha die Großmutter, obwohl Tabitha doch so geschockt war, als Rouven ihr genau dies erzählt hatte. Doch jetzt würde Tabitha liebend gern mit Nana tauschen. Einfach vergessen, was alles um sie herum geschah. Endlich einmal diese unzähligen Fragen in ihrem Kopf verschwinden lassen. Die Unsicherheit und die Angst. Einfach leben. Da sein. Und sich daran freuen, wenn andere Leute einen ansprachen.
Tabitha schaute zu dem Bollerofen, der von oben bis unten weiß eingekleistert war. Sie grinste kurz. Da wartete ein gutes Stück Arbeit auf sie.
Später.
Das Lächeln verschwand, und sie schaute erneut zu Rouven auf.
Der saß noch immer gedankenversunken auf dem Stuhl. Er versuchte, sich die Bilder der Hypnose in Erinnerung zu rufen. Versuchte das, was er gesehen hatte, in Einklang zu bringen. Verbindungen zu schaffen.
So übernahm Tabitha wieder die Führung. »Kannst du dich daran erinnern, dass du durch die Zeit gereist bist?«
Rouven nickte. »Mathidas Stimme hat mich durch verschiedene Epochen geführt. Und immer stand ich als Junge dort.«
»Ich hatte Mathidas Gesicht gesehen, als du in der Hypnose davongesprochen hast. Jedes Mal war sie sehr erstaunt und wusste gar nicht, ob sie dir das glauben kann oder nicht.«
»Jetzt kann ich es selbst kaum glauben«, antwortete Rouven. »Aber in der Hypnose war das alles völlig klar und selbstverständlich. Ich stand stets in dieser Stadt, mit jemandem an meiner Seite, der sich um mich kümmerte. Nur einmal stand ich auf einem Schiff. Doch ich blickte wieder auf diese Stadt.«
»Glaubst du, das kann wahr sein?«
»Unbedingt.« Rouvens Stimme ließ keinen Zweifel daran. »Ich war zu verschiedenen Zeiten als Junge bei Pflegeeltern. Mal auf einer Farm am Stadtrand, mal mitten in der Stadt, mal auf einem Schiff, das den Hafen dieser Stadt wohl immer wieder angefahren hat. Ich wüsste nur zu gern, wie oft ich hier war.«
»Wie oft? Was meinst du damit?«
Rouven sah nun endlich von dem Glas Wasser in Tabithas Hand auf und blickte in ihr Gesicht: »Wie weit
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