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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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Friedhof, vorbei an überwucherten Gräbern und halb verfallenen Grabsteinen. Ihre knirschenden Schritte im Kies waren das einzige Geräusch dieser Nacht. Es schien beinahe so, als halte selbst der Hafen den Atem an, in Erwartung dessen, was die beiden Polizisten in Erfahrung bringen konnten.
    »Mist!« Mayers war über eine Wurzel gestolpert, die sich quer über den Kiesweg ausgebreitet hatte. Er riss Tallwitz die Taschenlampe aus den Händen und leuchtete auf seinen Fuß. Ein tiefer Riss zeigte sich in seinem roten Schuh. »Verflixt!«
    Missmutig ließ er den Lichtkegel der Lampe vor ihnen über den Kies wandern, und schließlich beleuchtete er die Tür der Kapelle.
    Sie war geöffnet. Der handbreite Spalt, der einen Blick in die Schwärze des Innenraumes freigab, wirkte nicht sehr einladend.
    »Wieso steht sie auf?« Tallwitz wunderte sich, dass er flüsterte.
    Und noch mehr wunderte er sich, dass Mayers ihm im Flüsterton die Antwort gab. »Keine Ahnung!«
    Sie gingen weiter darauf zu. Mayers drückte mit der Handfläche die grün gestrichene Holztür auf. Das laute Knarren fuhr den beiden bis ins Mark. Und schnell durchleuchtete Mayers den ganzen Raum.
    Sie waren allein in der Kapelle. Die wenigen Holzbänke in dem Gebäude waren leer. Von den unzähligen Grabkerzen, die auf einem eisernen Halter aufgestellt worden waren, konnten sie nur noch die rote Hülle sehen. Mayers schätzte, dass es einige hundert sein mussten. Zum Teil lagen die Hüllen aufeinander oder steckten ineinander. Die Kerzen darin waren allesamt niedergebrannt. Vermutlich hatte schon lange keine Kerze mehr hier geleuchtet, denn nicht einmal der typische Geruch verloschener Flammen war im Raum verblieben.
    Mayers ließ das Licht über alle Wände schweifen und wunderte sich, dass er nicht die üblichen Heiligenfiguren oder Gottesbilder zu sehen bekam. Ganz im Gegenteil: Die Wände waren allesamt leer. Der graue Anstrich, den man ihnen verpasst hatte, bröckelte an einigen wenigen Stellen ab, doch ansonsten bildeten die Wände eine geschlossene Einheit, die einzig von dem riesigen Fensterbild an der Wand gegenüber der Tür unterbrochen wurde.
    Dieses Fensterbild war also weltberühmt, erinnerte sich Mayers an die Worte des Professors. Auch er selbst kannte es recht gut, denn als Kind war er bereits hier gewesen, mit seiner Schulklasse, um dieses Bild anzuschauen. Doch so richtig hatte er es noch nie betrachtet. Nicht so wie jetzt, so eingehend. Das Licht der Taschenlampe fuhr langsam darüber. Vogelkrallen, die einen jungen Mann zu Boden drückten, der eindeutig Hufe statt seiner Füße hatte. Was Mayers bisher noch nie aufgefallen war, das waren die schemenhaften Gestalten an der Seite des Bildes. Im Hintergrund, viel kleiner abgebildet als die beiden kämpfenden und ringenden Hauptfiguren in der Mitte.Schmale, graue Schatten, bei denen man die menschlichen Konturen eher erahnen musste. Mayers zählte sie durch und war nicht überrascht, dass es genau zwölf waren.
    »Das stellt wohl die verschwundenen Familien dar«, flüsterte Tallwitz nachdenklich, der den Lichtschein von Mayers’ Taschenlampe ebenfalls beobachtet hatte. »Die Familien, die vor über tausend Jahren verschwunden und wieder aufgetaucht sind.«
    »Das denke ich auch«, antwortete Mayers und ließ den Lichtkegel von den grauen Gestalten auf dem Fensterbild nach oben wandern, zu den Symbolen, die den beiden Polizisten inzwischen so vertraut und dennoch fremd waren: Kralle und Mondsichel.
    Und schließlich suchte das Licht der Lampe den Weg in die Mitte des Bildes, zu der Figur, die das Stierwesen zu Boden drückte. Das Licht strich über den kräftigen Körper, aus dessen Rücken Vogelflügel stachen, und über seine Hände, die im Kampf in die menschlichen Hände seines sonst als Stier dargestellten Gegenspielers gekrallt waren.
    Und dann hielt die Wanderung des Lichtkegels inne. Plötzlich stoppte Mayers den Weg seiner Lampe. Er verharrte auf dem Gesicht des Jungen.
    Das Licht zitterte.
    Mayers zitterte.
    Und Tallwitz hielt die Luft an.
    Beide starrten sie auf das Gesicht der Hauptperson dieses Fensterbildes.
    Ungläubig. Überrascht. Fassungslos.
    »Das kann nicht sein«, flüsterte Tallwitz, und seine leise Stimme wurde von den Wänden der Kapelle als vielfältiges Echo zurückgeworfen. »Das ist unmöglich.«
    Mayers stand mit offenem Mund an Tallwitz’ Seite. Ihm fehlten die Worte.
    Doch er gab seinem Kollegen recht. Das war unmöglich.
    Und dabei sahen sie es doch mit

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