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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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weiterer Verdacht stellte sich in Tabithas Kopf ein. Ein Gedanke, der ihr erneut einen Schauer durch den ganzen Körper jagte.
    Tabitha löste sich aus der Umarmung und stellte sich vor Nana. Sie blickte auf die Bluse, die Nana trug. Die blaue Bluse, von der Rouven erzählt hatte, dass er sie für Nana aus einem Altkleidersack gefischt hatte, weil er diese Farbe für wunderbar passend zu Nanas Augen gefunden hatte. Diese Bluse, von der Tabitha wusste, dass Nana sie beinahe jeden Tag trug, weil sie sie so mochte. Diese Bluse, die Rouvennachts heimlich für Nana wusch, wenn die Frau in ihrer Ecke schlief. Diese Bluse, mit den langen, weiten Ärmeln.
    Tabitha nahm den linken Arm von Nana in ihre Hand. Sie streckte Nanas Arm und knöpfte das Ende des Ärmels auf.
    »Was machst du jetzt?«, wunderte sich Nana, doch dieses Mal gab Tabitha ihr keine Antwort. Zu sehr war sie auf das konzentriert, was sie tat. Sie eilte sich, das Ende des Ärmels zu fassen und in die Höhe zu ziehen. Und mit erneutem Entsetzen blickte sie auf das, was der blaue Stoff nun freigab: den schlanken Sichelmond und die gezückte Vogelkralle, eingeritzt in Nanas Haut.

E r hatte das Gefühl für die Richtung verloren. Er wusste nicht, durch welche Straßen er gelaufen, in welchen Vierteln der Stadt er sich bewegt hatte. Während der vergangenen Stunden hatte Rouven nur das Bild von Tabitha vor Augen gehabt. Wie sie auf seinen Knien liegend ihr Leben aushauchte, während hinter Rouven unentwegt diese fremde Stimme auf ihn eingebrüllt hatte. Immer und immer wieder hatte Rouven sich gefragt, was dies zu bedeuten hatte und wie es zu alledem hatte kommen können.
    Nun betrat er völlig erschöpft und entkräftet den Stadtpark. Seine Beine suchten wie von selbst den Weg zum Wasserwerk. Rouven wollte nur noch schlafen. Vielleicht konnte er wenigstens im Schlaf für ein paar Stunden die Bilder abschütteln.
    Ruhe finden.
    Vor sich selbst.
    Er freute sich auf die Dusche im hinteren Teil des Wasserwerks, wo sich noch immer die Toiletten und Waschräume der früheren Belegschaft befanden. Schon in den ersten Tagen seines Aufenthaltes im Wasserwerk hatte Rouven alles säubern und instand setzen können.
    Nun wollte er sich waschen. Vielleicht mit Wasser dieses Schuldgefühl aus seinem Körper schwemmen.
    Knarrend ließ sich das schwere eiserne Tor öffnen. Kaum war Rouven in den langen Gang getreten, da hörte er auch schon Tabithas Stimme von innen nach ihm rufen.
    Das Knarren der Tür hatte sie aufgeschreckt, und nun kam sie voller Hoffnung in den Gang gelaufen.
    Rouven wollte sich umdrehen und davonlaufen. Am liebsten wäreer vor Tabitha geflüchtet. Vor diesem Moment des Wiedersehens fürchtete er sich. Er wagte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Ihr, für deren Tod er verantwortlich war. Wie sollte er denn nur   …?
    »Rouven!« Ihre Freude, ihn zu sehen, entwaffnete ihn. Im selben Moment, in dem er sah, wie sie strahlend auf ihn zugelaufen kam, fielen alle dunklen Gedanken von ihm ab.
    »Tabitha!« Nun rannte er auch auf sie zu. Sie fielen sich in die Arme, und Rouven hätte sich für diesen Moment kein schöneres Gefühl wünschen können.
    »Du bist hier«, hauchte sie ihm erleichtert ins Ohr. »Und es geht dir gut.«
    »Ich wusste nicht, was   … Ich bin   …«
    »Scht   …« Mit einem Kuss auf seinen Mund gebot sie ihm zu schweigen. »Es wird alles gut«, flüsterte sie, und Rouven spürte auch den letzten Rest der Angst aus seinem Körper strömen. Wie ein kleines Kind, das durch den Zuspruch seiner Mutter alle Befürchtungen beiseitelegt und die ersten Schritte wagt oder den Sprung ins Schwimmbecken, so geborgen und aufgenommen fühlte sich Rouven allein durch Tabithas Anwesenheit und ihre Worte.
    »Danke«, sagte er nur, und Tabitha spürte, dass dieses Wort aus Rouvens tiefster Seele zu ihr fand.
    Aus dem Inneren drang Gesang zu ihnen.
    »Nana«, flüsterte Rouven, und seine Muskeln entspannten sich. Ja, er war in seinem Zuhause angekommen.
    »Ich möchte dir gern etwas zeigen«, sagte Tabitha, und ihrer Stimme merkte Rouven an, dass es nichts Gutes war, was ihn erwartete. Tabitha führte ihn in die Halle des Wasserwerks, in die hintere Ecke, wo Nana gerade dabei war, den sonst silberglänzenden Chrom-Ofen mit einer weißen Schmiere einzureiben.
    »Was macht sie da?«, wunderte sich Rouven.
    »Ich hab versucht, sie abzuhalten«, gab Tabitha zur Antwort. »Vorhin meinte sie, dass der Ofen mal unbedingt gereinigt werden sollte. Und sie ist

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