Sichelmond
die Tafel befindet«, gab Tallwitz zu bedenken. »Dieses Haus scheint zu seinem Lebensmittelpunkt zu gehören.«
»Stimmt. Einen Wagen haben wir ja bereits dort postiert. Aber lass uns die Verstärkung vor allem dorthin schicken. In einem Radius von zwei Kilometern rund um die Tafel werden wir unsere Fahndung konzentrieren. Und glaub mir, wir werden ihn wieder zurückholen!«
Es fiel ihm etwas schwer, doch Mayers ließ endlich die Taschenlampe sinken und tauchte das Fensterbild der Kapelle in das tiefe Schwarz, das die zwei Ermittler beim Eintreffen empfangen hatte. Die beiden verließen wortlos das Gebäude, setzten sich in ihren Wagen und fuhren los, ohne sich noch einmal umzudrehen.
A ls Tabitha und Rouven den alten Friedhof am Hafen erreichten, bemerkten sie beiläufig, wie ein Wagen von der hinteren Mauer losfuhr. Hätte Rouven ihm mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hätte er den Wagen als das Auto wiedererkannt, unter dem er sich vor Wochen versteckt hatte. Doch dazu stand ihm nicht der Sinn. Er wurde nur noch von diesem einen Drang geleitet, in die Kapelle zu gelangen.
Tabitha wirkte an seiner Seite aufgewühlt und fahrig. Es war zu spüren, dass sie unter großer Angst stand.
Als sie auf den schmalen Weg traten, der zwischen all den Gräbern und Grabsteinen zur Kapelle führte, knirschte unter ihren Schuhen laut der Kies – das einzige Geräusch in dieser Nacht.
Die ganze Welt schien den Atem anzuhalten in diesem Moment. Kein Laut drang zu ihnen. Weder die typischen Geräusche der Stadt um sie herum noch die Klänge des Hafens waren zu hören. Und so erschien Rouven das knirschende Geräusch unter ihren Füßen wie Schreie in der Nacht. Vielleicht Schreie der Warnung vor dem, was sie erwartete, dachte er noch.
Tabitha hängte sich mit einem Arm bei Rouven ein. Sie fand es sehr unheimlich, diesen Ort zu betreten. Diesen Ort, an dem sie ihr Leben gelassen hatte. Hier wurde ihr wohl das Herz aus der Brust gerissen. Hier wurde sie zu dem, was sie heute war: eine Untote; eine Wanderin zwischen zwei Welten.
Sie versuchte sich abzulenken und konzentrierte sich darauf, die Grabsteine genau anzuschauen, an denen sie vorbeigingen. In dem schwachen Licht der Nacht konnte sie jedoch kaum etwas erkennen.Ihre Augen waren zu Schlitzen geformt. Sie strengte sich an, um im Dunkel möglichst viel erblicken zu können.
Und dann schrie sie auf.
Plötzlich.
Kurz.
Rouven fuhr zusammen. Und im nächsten Moment war ihm klar, was Tabitha gesehen haben musste. Er war sich so sicher, dass er darauf verzichtete nachzufragen.
Und Tabitha war ihm dankbar dafür.
Sie zog ihn mit sich. Herunter vom Kiesweg, über das Gras eines ehemaligen Grabes hinweg auf einen Grabstein zu, der zwischen all den alten Grabsteinen selbst in diesem Nachtlicht auffiel. Er wirkte sauber und gepflegt. Hier musste erst vor kurzer Zeit jemand gewesen sein. Die Blumen auf dem Grab waren noch nicht verblüht. Und anders als bei den anderen Gräbern wucherte hier auch nichts. Rouven konnte eindeutig die Grabeinfassung aus hellem Sandstein erkennen und den passenden hellen Grabstein, der portalartig hinter allem thronte. Er sah das Grablicht, ebenfalls aus hellem Sandstein, in einer laternenartigen Form, mit einer verloschenen Kerze darin. Und er sah den riesigen Teddybären, der in einem hellblauen Pullover gegen den Grabstein gelehnt war, als würde er schlafen.
Tabitha begann zu zittern. Der Arm, mit dem sie sich bei Rouven eingehängt hatte, versteifte sich. Sie drückte sich fest an Rouven, und er spürte, dass sie diesen Halt jetzt benötigte. Dass sie ohne ihn das Gleichgewicht verlieren würde. Dass sie hier, an dieser Stelle zusammenbrechen würde, wenn er ihr jetzt nicht die Kraft zum Durchhalten gab.
Doch auch ihm versagte die Kraft. Denn auch er konnte sehen, was sie sah. Auch er konnte lesen, was sie las. Und auch er verstand, was es bedeutete.
Schweigend standen die beiden vor der Grabeinfassung, den Blick fest auf die goldenen Buchstaben auf dem Grabstein gerichtet. Auf den Namen: Tabitha Berns.
Sie standen vor ihrem Grab. Dem Grab, das bis vor Kurzem noch die Eltern gepflegt hatten.
Rouven atmete tief ein. Ein unheimlicher Gedanke. Arm in Arm mit einem Menschen an dessen Grab zu stehen.
Doch er schüttelte sich. Diesen Gedanken musste er von sich weisen. Überhaupt sollte er jetzt nicht nachdenken. Er musste jetzt für sie da sein.
Für Tabitha.
Er musste ihr Kraft geben.
Allein das war wichtig.
D er Anruf erreichte Mayers
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