Sichelmond
schon, bevor er die Gelegenheit hatte, seine Kollegen anzurufen und zu informieren. Tatsächlich riss das schrille Klingeln seines Telefons den Polizisten an diesem frühen Morgen so heftig aus dem Schlaf, dass er erschrocken aufschrie.
»Ein schlechtes Omen«, murmelte er verschlafen. »Dieser Tag kann ja nur noch schlecht verlaufen!«
Und er wunderte sich, dass er recht behalten sollte. Schon beim Abheben des Hörers vernahm er Bertolis aufgeregte italienische Stimme am anderen Ende: »Katastrophe.«
»Was denn?«, brummte Mayers, vom Schlaf benommen, in den Hörer hinein. »Was ist eine Katastrophe?«
»Herr Mayers, Sie sind da!« Die Aufregung in Bertolis Stimme legte sich etwas. »Sie müssen hierherkommen. Jetzt. Jetzt gleich.«
»Was ist denn los?« Schon schlüpfte Mayers in seine Hosen hinein.
»Ich hatte einen Anruf. Vom Polizeipräsidenten …«
»Was?«
»Er will Rouven sehen. Er kommt in einer Stunde, um den Jungen zu sprechen.« Jetzt überschlug sich die Stimme Bertolis beinahe wieder. »Verstehen Sie? Er kommt hierher, der Polizeipräsident. Und alles, was ich ihm bieten kann, ist eine leere Zelle.«
Aller Schlaf war aus Mayers Körper entwichen. Er war hellwach. Mit einem Schlag. Das konnte das Ende seiner Karriere bedeuten. Und das Ende des Polizeidienstes für Bertoli und Tallwitz. Er hätte sich ohrfeigen können für seine idiotische Idee, Rouven Zeit zu geben. Was immer der Junge draußen zu suchen hatte, eine Sache hatte er bereits gefunden: Ärger!
»Noch da?«, rief Bertoli ins Telefon. »Mayers?«
»Noch da!«, rief der zurück. »Aber nicht mehr lange. Ich fahre los.«
»Soll ich Tallwitz …?«
»Nicht nötig! Ich rufe bei ihm an, klingel ihn aus den Federn und dann hole ich ihn ab und wir kommen vorbei.«
»Und ich?« Nun klang Bertoli regelrecht hilflos. »Was mache ich bis dahin?«
»Hoffen. Beten. Von mir aus Kerzen anzünden. Irgendwas …«
Mayers wartete Bertolis Antwort nicht ab. Er brauchte beide Hände, um sich den Pullover überzustülpen. Doch kaum kam sein Kopf zum Vorschein, da hatte er das Handy schon wieder am Ohr.
»Tallwitz. Mensch!«, brüllte er nur wenige Sekunden später in den Hörer. Er klang nun ebenso aufgeregt wie Bertoli. »Zieh dich an, ich bin in fünfzehn Minuten bei dir. Wir haben ein ziemliches Problem am Hals!«
T abitha versuchte, das Unverständliche zu verstehen. Sie bemühte sich, das Unglaubliche zu glauben.
Rouven beugte sich zu ihr vor und drückte seine Wange an ihre Schläfe. Tabithas Gesicht war schweißnass. Sie atmete hastig und unkontrolliert. Doch Rouvens Berührung ließen sie etwas ruhiger werden.
Es tat so gut, ihn jetzt an ihrer Seite zu wissen. Und mit dieser Einsicht und der Ruhe, die Rouven ihr vermittelte, kehrte auch der Gedanke in ihr zurück, warum sie diesen Ort aufgesucht hatten. Sie wandte den Kopf und schaute an Rouven vorbei zur Kapelle, die beinahe schlafend wirkte zwischen all den Gräbern.
»Wir sollten gehen«, flüsterte Tabitha. Und ohne eine Antwort von Rouven abzuwarten, drehte sie sich um und ging ihm voraus.
Noch immer beherrschte völlige Stille diesen Ort, die wieder erst durch ihre Schritte auf dem Kies unterbrochen wurde.
Rouven folgte Tabitha wortlos. Dieses Mal war er sicher, dass das Knirschen des Weges wie eine laute Warnung zu verstehen war. Die ganze Situation erschien ihm völlig widersprüchlich. Die Kapelle, die so friedlich auf sie zu warten schien, und die Gefühle in seinem Inneren, die sich überschlugen.
Er blickte sich um, ob sie auch wirklich allein waren. Dabei glitt sein Blick erneut über all die Grabstätten um sie herum. Ein neuer Gedanke kam ihm in den Sinn. Er fragte sich, ob sich an diesem Ort wohl auch Nanas Grab befand. Und ob er es wohl jemals finden könnte, wenn er ihren richtigen Namen nicht kannte.
Er riss sich davon los und konzentrierte sich wieder darauf, seinenGeist frei zu machen, bevor er hinter Tabitha durch die grün gestrichene Holztür das Innere des Gebäudes betrat.
Rouven fuhr zusammen. Sie wurden geblendet, und es verschlug ihnen den Atem. Die Luft war drückend, beinahe erstickend. Rouvens Augen brauchten einige Sekunden, um sich an den extremen Übergang von der Dunkelheit draußen in dieses flimmernde Licht hier drin zu gewöhnen. Doch dann konnte Rouven erkennen, dass diese Helligkeit von den unzähligen brennenden Kerzen stammte, die im ganzen Raum aufgereiht waren. An der gesamten Wand entlang standen leuchtende Kerzen auf dem
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