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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
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es eine vollkommene Weisheit, die zu erlangen wir hoffen dürfen? Erkennen wir nicht, je mehr wir lernen, nur um so mehr unsere Unwissenheit? Könnten wir, selbst wenn wir zehntausend Jahre lebten, hoffen, die Geheimnisse der Sonne und des Raumes jenseits der Sonnen und der Hand, die sie dorthin hängte, zu ergründen? Gliche unsere Weisheit nicht einem quälenden Hunger, wären wir uns nicht Tag für Tag des unstillbaren Verlangens unserer Seelen bewußt? Wäre sie nicht wie eine Lampe in einer dieser großen Höhlen, die, so hell sie brennt, dennoch nur die Tiefe des umliegenden Dunkels zeigt? Und was für Gutes gibt es sonst noch, das wir durch ein langes Leben erreichen könnten?«
    »Nun, mein Holly, die Liebe – die Liebe, die alles verschönt und sogar dem Staub, auf dem wir wandeln, Göttlichkeit einhaucht. Mit Liebe fließt das Leben herrlich von Jahr zu Jahr dahin wie der Klang großer Musik, die des Zuhörenden Herz wie auf Adlerschwingen hinwegträgt über irdische Schmach und Torheit.«
    »Mag sein«, erwiderte ich; »doch wenn das geliebte Wesen sich als gebrochenes Rohr erweist, das unser Herz durchbohrt, oder wenn man vergeblich liebt – was dann? Nein, o Ayesha, ich will die mir zugemessene Zeit leben, mit meiner Generation altern, den mir bestimmten Tod sterben und vergessen werden. Denn ich hoffe auf eine Unsterblichkeit, der gegenüber die kleine Spanne Zeit, die du mir vielleicht schenken kannst, nur wie die Länge eines Fingers gegen die Maße der großen Welt sein wird; und merke! die Unsterblichkeit, die meiner harrt, die mein Glaube mir verheißt, wird frei sein von den Banden, die hier meinen Geist fesseln. Denn solange das Fleisch besteht, müssen auch Sorgen und Leid und die Skorpionenstiche der Sünde bestehen; nur wenn das Fleisch von uns abfällt, wird der Geist, erfüllt von der Klarheit des ewig Guten, erstrahlen und einen so raren Äther edelster Gedanken atmen, daß der größte menschliche Ehrgeiz, der reinste Weihrauch eines jungfräulichen Gebetes zu grob wären, davor zu bestehen.«
    »Du blickst hoch hinauf«, sagte Ayesha leise lachend, »und du sprichst klar wie eine Trompete und ohne das leiseste Schwanken. Doch hast du nicht soeben erst von jenem ›Unbekannten‹ gesprochen, das ein Leichentuch unserem Blick entzieht? Vielleicht siehst du nur mit den Augen des Glaubens, erblickst diese künftige Herrlichkeit durch das bunte Glas deiner Phantasie. Gar seltsam sind die Zukunftsbilder, welche die Menschheit sich mit dem Pinsel des Glaubens und den schillernden Farben der Phantasie malt! Seltsam auch, daß keines davon einem anderen gleicht! Ich könnte dir sagen – doch was würde es frommen –, warum einem Narren seine Schellenkappe rauben? Sprechen wir nicht mehr darüber; ich wünsche nur, o Holly, du wirst es, wenn du das Alter langsam nahen fühlst und das Greisentum deine Sinne verwirrt, nicht bitterlich bereuen, daß du die königliche Gabe, die ich dir anbot, von dir wiesest. Doch so war es schon immer; der Mensch ist nie zufrieden mit dem, was seine Hand pflücken kann. Hat er eine Lampe, im Dunkel ihm zu leuchten, so wirft er sie fort, weil sie kein Stern ist. Das Glück tanzt stets einen Schritt vor ihm her wie die Irrlichter in den Sümpfen, und er muß das Feuer fangen, muß den Stern erheischen! Schönheit ist ihm nichts, denn es gibt noch honigsüßere Lippen; und Reichtum hält er für Armut, weil andere noch mehr Geld besitzen; und Ruhm gilt ihm nichts, weil es noch größere Männer als ihn gegeben hat. Du selbst hast es gesagt, und ich halte dir deine eigenen Worte vor. Wohlan, du träumst, daß du den Stern pflücken wirst. Ich glaube es nicht, und ich heiße dich einen Toren, o Holly, weil du die Lampe fortwirfst.«
    Ich schwieg, denn Leos wegen konnte ich ihr nicht sagen, daß ich ihr Gesicht, seit ich es gesehen hatte, nie vergessen würde und daß ich nicht den Wunsch hatte, ein Leben zu verlängern, das stets von der Erinnerung an sie und von der Bitternis unerfüllter Liebe vergiftet sein würde. Doch so war es, und so ist es, ach, bis zu dieser Stunde!
    »Und nun«, fuhr ›Sie‹, den Ton und das Thema gänzlich wechselnd, fort, »sage mir, mein Kallikrates – denn bis jetzt weiß ich es noch nicht –, wie ihr dazu kamt, mich hier zu suchen. Du sagtest gestern abend, dieser Kallikrates – dessen Leichnam du sahst – sei dein Vorfahr gewesen? Erzähle mir davon – du bist nicht gerade gesprächig!«
    So aufgefordert, erzählte ihr Leo die

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